Schulpastoral oder Schuldiakonie? Zur Notwendigkeit einer Neukonturierung christlichen Handelns in der Schule angesichts wachsender Konfessionslosigkeit


Mariusz Chrostowski


Zusammenfassung

Schulpastoral gerät angesichts wachsender Konfessionslosigkeit immer stärker in Plausibilisierungsstress. Ihre – vor allem liturgisch-mystagogischen – Angebote sind selbst vielen Getauften fremd. Der Kreis der Adressat:innen schrumpft kontinuierlich, während die kirchliche Ressourcenknappheit zu Sparmaßnahmen zwingt. Angesichts dieser Herausforderungen ist es notwendig, diesen wertvollen christlichen Dienst am Menschen in öffentlichen Schulen neu zu konturieren, um ihn auch in Zukunft erhalten zu können. Genau dies ist das Ziel dieses Beitrags, in dem ein Plädoyer für Schuldiakonie formuliert wird.

Schlagwörter: Bildung, Diakonie, Konfessionslosigkeit, Schuldiakonie, Schulpastoral


School Pastoral Care or School Diaconia? On the Need for a New Contouring of Christian Action in Schools in the Face of Growing Non-Denominationalism


Abstract

School pastoral care is increasingly under pressure of plausibility due to the growing number of religious disaffiliations. Its offerings, especially liturgical and mystagogical, are alien to many of the baptised. The circle of recipients is steadily shrinking, while the Church’s lack of resources is forcing austerity measures. In the light of these challenges, it is necessary to re-frame this valuable Christian service to individuals in public schools to ensure that it can be sustained in the future. This is the aim and purpose of this paper, which presents a plea for school diaconia.

Keywords: diaconia, education, non-denominationalism, school pastoral care, school diaconia


Einleitung

„Die Kirche der Zukunft wird diakonisch sein – oder sie wird nicht mehr sein“ (Gatzke & Petzoldt, 2023) – diese sicherlich etwas zugespitzte Reaktion evangelischer Diakon:innen auf die VI. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung (EKD, 2023) impliziert nicht nur eine Weichenstellung für die Kirche(n) und ihre Pastoral an sich, sondern auch für die Schulpastoral (ev. Schulseelsorge), in welcher konfessionellen Ausprägung auch immer. Dafür gibt es gute Gründe: In einer Gesellschaft, in der die Konfessionslosigkeit1 von Jahr zu Jahr zunimmt und in der sich die soziokulturelle Landschaft (zusammen mit den Digitalisierungsprozessen) erheblich verändert (ebd., S. 16–23), genießt christlich motiviertes diakonisches Tun sowohl bei Christ:innen als auch bei Konfessionslosen hohe Anerkennung (ebd., S. 46–47). Auch der Verbleib in der Kirche ist diakonisch motiviert, „weil sie sich für Solidarität und Gerechtigkeit in der Welt und für die Zukunft der Menschheit einsetzt“ und „etwas für Arme, Kranke und Notleidende tut“ (ebd., S. 64; vgl. auch Gatzke & Petzoldt, 2023). Demzufolge wird christliches Engagement also gerade dort besonders geschätzt, wo die Kirche – ganz im Sinne des Evangeliums (z. B. Lk 4,18; 7,36–50; 10,25–37) und von Papst Franziskus (vgl. u. a.: Eckholt, 2016; Borghesi, 2020) – den Menschen an der sozio-existenziellen Peripherie zur Seite steht.

Transformiert auf die Schulpastoral deuten diese empirisch fundierten Erkenntnisse darauf hin, dass Ansätze wie die mystagogische (vgl. u. a.: Roeger, 2009; 2015) oder ignatianische (vgl. u. a.: Görtz, 2014; Görtz & Molzberger, 2015) Perspektivierung schulpastoraler Angebote und das (kirchliche) Festhalten an deren Strukturierungsprinzipien wie Martyria, Leiturgia und Koinonia (DBK 1996, S. 19; 2020, S. 37) kontinuierlich an Gültigkeit verlieren werden, worauf Ulrich Kropač bereits vor fast 10 Jahren mit Blick auf die postmoderne Gesellschaft hingewiesen hat (Kropač, 2015, S. 13). Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich Schulpastoral in Deutschland seit Jahrzehnten vermehrt diakonisch versteht (Könemann, 2015, S. 17). Dies ist nicht nur auf den historischen Sprung von der Schülerseelsorge zu ihrem heutigen Verständnis zurückzuführen (Chrostowski, 2021, S. 106–109), sondern auch auf ihre zunehmend pluralitätssensible Ausrichtung (vgl. u. a: Kaupp, 2018). Dementsprechend sind viele schulpastorale Aktivitäten – vor allem an öffentlichen Schulen – ohnehin diakonisch angelegt (vgl. u. a.: Erzbistum München und Freising, 2024; RPI der EKKW & EKHN, 2019). Diese bereits eingeleitete Entwicklung wird sich aller Voraussicht nach in Zukunft weiter verstärken. Wenn Schulpastoral – so meine These – weiterhin aus christlicher Überzeugung einen Beitrag zur Humanisierung der Schule (DBK, 1996, S. 7) leisten und dabei möglichst allen Menschen offenstehen will, müsste sie sich angesichts der rückläufigen Zahl konfessionell gebundener Adressat:innen sowie Mitarbeiter:innen noch entschiedener diakonisch profilieren. Genau dieser Aufgabe nimmt sich der vorliegende Beitrag an.

Vorab ist jedoch zu betonen, dass es mir nicht um eine simple Umetikettierung der Schulpastoral in Schuldiakonie geht. Ebenso wenig soll ein detailliertes Programm für Schuldiakonie entworfen werden, da dies den Rahmen eines begrenzten Artikels sprengen würde. Eine detaillierte, systematische Durchdringung des in der Fachliteratur gut dokumentierten religionspädagogischen Diskurses zu Konfessionslosigkeit (vgl. u. a.: Käbisch, 2014; Kropač, 2018; Domsgen, 2020; Kropač & Schambeck, 2022; Hock & Käbisch, 2023) und Schulpastoral (vgl. u. a.: Schmitz, 2004; Koerrenz & Wermke, 2008; Gutmann, Kuhlmann & Meuche, 2014; Kaupp, 2018; Chrostowski, 2021) findet ebenfalls nicht statt. Vielmehr ist der Beitrag ein Plädoyer und damit eine erste Annäherung an die Konzeptualisierung der Schuldiakonie und soll als Anregung bzw. Pro-Vokation (lat. ‚hervorrufen‘) für eine kritische Auseinandersetzung mit den vorgeschlagenen Termini sowie für weitere Diskussionen innerhalb der Scientific Community und kirchlicher Gremien dienen. Dazu wird zunächst ein erkenntnistheoretischer Rahmen skizziert, der die Potenziale der Diakonie im Hinblick auf die Profilierung christlichen Handelns in der Schule und die Stärkung konfessionell-kooperativer Trägerschaft beleuchtet. Darauf aufbauend werden im Rahmen eines konzeptionellen Spezifizierungsversuchs zentrale Signaturen der Schuldiakonie definiert und herausgearbeitet. Abschließend wird eine Bilanzierung in fortgeschriebener Absicht vorgenommen.

1 Erkenntnistheoretischer Rahmen: Potenziale der Diakonie für christliches Handeln im Schulkontext

„Der Begriff Diakonie (griechisch diakonia = Dienst) drückt näherhin einen besonders genuinen Aspekt der christlichen Glaubenspraxis aus. […] [Er] beschreibt eine personale Dienstleistung am Mitmenschen, in der sich der diakonische Charakter der Liebe Gottes zu den Menschen in besonderer Weise offenbart (vgl. Lk 22,26; Mt 20,26 und Parallelen; Mt 23,11; Phil 2,5)“ (Pompey, 1988, S. 422). Genau in dieser Bedeutungsschattierung wurde Diakonie über Jahrhunderte verstanden, aber das Wort Diakonie besagt wesentlich mehr als „dienen“ (Lilie, 2019, S. 45). Bereits in den 1990er Jahren konnte der australische Theologe J. N. Collins (1990) plausibel machen, dass es sogar sinnvoller wäre, Diakonie mit Vermittlung oder Verbindung zu übersetzen (Lilie, 2019, S. 45; Ryökäs, 2013, S. 107–108). „Die altgriechische Wortwurzel ‚Diak‘ habe mit dem Verb ‚darauf losgehen‘ zu tun. Und das heißt, dass Menschen, die sich der Diakonie verpflichten, nicht nur wohltätige Diener sind. Sie sind auch Kuriere, Verbinder, Abgeordnete, Begegnungen Ermöglichende und Brückenbauer. Ihre Verortung liegt im Dazwischen“ (Lilie, 2019, S. 45).

Eine solche diakonische Grundhaltung und ihre Verortung im Sinne eines Dazwischen ist einerseits angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit von eminenter Brisanz (Gatzke & Petzoldt, 2023). Andererseits gibt es seit Jahren grundlegende Anfragen, wie etwa die Kritik an der Diakonie aus den Humanwissenschaften (vgl. u. a. Lutz & Kiesel, 2021; Strube, 2022). Ein weiterer Punkt ist, dass in der Diakonie häufig tief verwurzelte paternalistische Haltungen verankert sind. Dies erfordert eine kritische Reflexion des eigenen Handelns als Diakonie, d.h. eine Entdiakonisierung, die eine „Auflösung einer diakonisch-dichotomen Wahrnehmung von Hilfebedürftigen und Helfenden“ (Uppenkamp 2021, S. 168) impliziert. Folglich wird sowohl aus diakonie- und caritaswissenschaftlicher als auch aus religionspädagogischer Perspektive nach neuartigen, zeit- und kontextsensiblen Gestaltungsformen gesucht (vgl. u. a. Henkelmann, Jähnichen, Kaminsky & Kunter, 2012; Eurich & Glatz-Schmallegger, 2019; Domsgen & Foß, 2021; Haspel, 2022; Foß, 2024), die das diakonische Profil plausibilisieren sollen. Aus der Diskussion in diesem Feld lässt sich folgern: So wenig das diakonische Profil in seiner Prägekraft von vornherein verabsolutiert werden darf, so wenig darf vernachlässigt werden, dass angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit religiöse Kommunikation neben anderen Kommunikationsformen – wie etwa politischer, ökonomischer oder pädagogischer – eine substanzielle Funktion hat, die menschliches Handeln mitprägt. Es gilt daher, den Gesichtspunkt der diakonischen Profilbildung neben anderen Rationalitätsformen in den Bildungskontext zu integrieren (Liedke, 2017, S. 105–106).

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass es gerade im Rahmen des christlichen Engagements in der Schule einer konsequenten „Rückkehr in die ‚Diakonie‘“ (Delp, 1985, S. 89) bedarf, da deren Realisierung im säkularen Kontext keine Schwierigkeiten bereitet (Kropač, 2015, S. 13). Oder anders ausgedrückt: Diakonie „ist ein kirchlicher Grundvollzug, dem gleichsam universale Bedeutung zukommt. Er stellt in postmodernen Zeiten das Glaubwürdigkeitskriterium par excellence für Kirche dar“ (ebd.). Wenn also die Schulpastoral noch stärker als bisher die Diakonie in den Fokus ihrer Aktivitäten rückt, wird sie nicht nur ihr Profil schärfen und damit eine neue, per se menschenfreundliche Strahlkraft nach außen entfalten, sondern auch an systemischer Relevanz gewinnen – auch als Kooperationspartnerin der Schulsozialarbeit (Chrostowski, 2021, S. 126–127; Demmelhuber, 1999, S. 28–30). Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Legitimation einer diakonisch orientierten Schulpastoral als freiwilliges Angebot – im Vergleich zur Schulsozialarbeit als Teil des schulpädagogischen Konzepts (Fehr, 2021, S. 27) – im Schulsystem stark davon abhängt, wie gut sie in die bildungspolitischen Konzeptionen und Strukturen der Schule eingebunden ist und wie deutlich ihre Unterstützung von der Schulgemeinschaft wahrgenommen wird. Genau an diesem Punkt zeigt sich das Erfordernis einer sorgfältigen Profilierung und Zielsetzung des christlichen Handelns in Schulen angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit, da es im Gegensatz zur Schulsozialarbeit nicht auf präzise (schulgesetzliche) Aufgabenbeschreibungen und klar definierte Zuständigkeitsregelungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe rekurrieren kann (Lochner, 2024, S. 118; vgl. auch Pikowsky, 2024). In diesem Sinne wird die künftige Transformation von der Schulpastoral zur Schuldiakonie sowohl bildungspolitisch als auch bildungstheoretisch ihren übergeordneten diakonischen Auftrag legitimieren, d. h. ihre Arbeit für Humanität (Menschenfreundlichkeit) und „gute Pluralität“ (Bartl, 2023, S. 230), die sich auf zwei Ebenen vollzieht: