„Ich habe das noch nie bewusst Diagnostik genannt, das ist ja was, was total unterbewusst läuft“. Empirische Erkundungen für eine klassismusreflexive Diagnostik
Claudia Gärtner/Annalena Sieveke
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird untersucht, wie Religionslehrkräfte heterogene Lernvoraussetzungen diagnostizieren und dabei klassistische Differenzlinien reflektieren oder reproduzieren. Die Analyse von drei Fallstudien zeigt: Lehrkräfte diagnostizieren Lernvoraussetzungen überwiegend implizit und entlang normativer Deutungsmuster – mit Tendenzen zu milieusensiblen, polarisierenden oder meritokratischen Zuschreibungen. Dabei werden soziale Ungleichheiten häufig kulturalisiert oder verdeckt. Der Artikel plädiert für eine intersektional sensible Diagnostik, die strukturelle Bedingungen, Differenzkategorien und eigene Zuschreibungen kritisch reflektiert. Implikationen ergeben sich für Unterrichtsqualität, Feedbackkultur und die Professionalisierung von Religionslehrkräften.
Schlagwörter: Religionsunterricht, Diagnostische Kompetenz, Klassismus, Bildungsgerechtigkeit, Intersektionalität, Othering
“I Have Never Consciously Called It Diagnostics, That’s Something That Happens Entirely Subconsciously”.
Empirical Explorations for a Classism-Reflexive Diagnostics
Abstract
This article examines how Religious Education teachers diagnose heterogeneous learning prerequisites and, in doing so, either reproduce or critically reflect classist lines of difference. The analysis of three case studies shows that diagnostic practices are largely implicit and shaped by normative interpretive patterns, with tendencies toward class-aware, polarizing, or meritocratic attributions. Social inequalities are frequently culturalized or concealed in this process. The article argues for an intersectionally sensitive approach to diagnostics that critically reflects structural conditions, categories of difference, and teachers’ own ascriptions. Implications are discussed for teaching quality, feedback culture, and the professional development of Religious Education teachers.
Keywords: Religious Education, Diagnostic Competence, Classism, Educational Justice, Intersectionality, Othering
Leistung und Leistungsbeurteilung wird in der Religionspädagogik seit Jahrzehnten kritisch diskutiert (Zimmermann, 2015; Pirker/Juen, 2018). Neben der Frage, ob religiöse Bildung nicht insgesamt ein bewertungsfreier Raum sein sollte, wird insbesondere darum gerungen, was überhaupt religiös gelernt und entsprechend erhoben und bewertet werden kann. Hingegen ist die eng mit der Leistungsthematik verbundene Diagnostik bislang in der Religionspädagogik vergleichbar wenig erforscht. Das Forschungsprojekt „DiaLeRu (Diagnostik heterogener Lernvoraussetzungen im Religionsunterricht)“ bearbeitet dieses Defizit: In einer empirischen Studie, die sich in ein quantitatives und ein qualitatives Teilprojekt untergliedert, wird untersucht, ob, wie und mit welchem Ziel Lehrkräfte im Religionsunterricht (RU) heterogene Lernvoraussetzungen diagnostizieren, ob ihre diagnostischen Urteile korrekt sind, welche Aspekte ihres Professionswissens dabei relevant sind, und ob eine korrekte Diagnostik mit einer höheren Unterrichtsqualität im RU einhergeht.
Dem Zusammenhang von Leistung und Diagnostik nähern wir uns im Folgenden über einen praxeologisch orientierten Leistungsbegriff. Dabei betrachten wir Leistungen nicht bloß als „Abbildungen eines bereits als vorhanden unterstellten Leistungsvermögens in Motivation, Kognition oder Aspiration. Sie sind vielmehr ihrerseits soziale Konstruktionen […] (Grümme, 2021, 155)“, die
„in unterrichtlichen – und nicht bloß z. B. in rahmenden schulischen Praktiken selbst hervorgebracht werden müssen; sie bedürfen daher nicht nur spezifischer Situationen und sozialer Relationen oder Distinktionen, sondern markieren darin Zuschreibungen, die ebenso performativ – d.h. auch rekursiv auf zukünftige ‚Leistung‘ zurückwirkend – wie subjektivierend sind“ (Rabenstein/Reh/Ricken et al., 2013, 685).
Hieraus ergibt sich für Religionslehrkräfte die professionelle Aufgabe, Leistung als ein komplexes soziales Konstrukt zu verstehen (Grümme, 2021, 155) und entsprechend die eigene Diagnostik von Schüler:innenmerkmalen (S:S-Merkmalen) und Leistungen in ihrer unterrichtlichen Performanz zu reflektieren und eigene Differenzkonstruktionen kritisch zu hinterfragen. Die professionelle Diagnostik von Lehrkräften wird als komplexes Bündel an Fähigkeiten verstanden, das Wahrnehmungs-, Interpretations-, und Bewertungspraktiken einschließt:
“Diagnostic activities comprise the gathering and interpretation of information on the learning conditions, the learning process or the learning outcome, either by formal testing, by observation, by evaluating students’ writings or by conducting interviews with students. The goal of diagnostic activities is to gain valid knowledge about individual students or the whole class in order to plan further individual support or whole-class teaching, to inform students and parents or to decide on resources. The teachers’ knowledge, skills, motivations and beliefs relevant to these diagnostic activities can be summarized as diagnostic competences” (Leuders/Dörfler/Leuders et al., 2018, 4).
Um die diagnostischen Praktiken kritisch in Hinblick auf ihre (Mit-)Produktion sozialer Differenzen und Leistungsordnungen zu reflektieren – so die Hypothese des Aufsatzes –, bedarf es einer klassismus- und gerechtigkeitssensiblen Perspektive von Lehrkräften auf ihre diagnostischen Praktiken der Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation von S:S-leistungen. In folgendem Beitrag werden daher Lehrkräfteinterviews auf den Zusammenhang von Diagnose(kompetenz) und Klassismus untersucht. Dazu wird in einem ersten Schritt das leitende Klassismusverständnis und der Zusammenhang zur Diagnostik erläutert, um anschließend diesem Zusammenhang in exemplarischen Fallstudien empirisch-rekonstruktiv nachzugehen. Die Ergebnisse der Fallstudien werden abschließend diskutiert, in einem theoretischen Horizont eingeordnet und reflektiert, wobei auch die Limitationen der vorliegenden Studie entfaltet werden.
Die folgenden Ausführungen verstehen Klassismus als
„strukturelle, institutionelle, kulturelle oder auch individuelle Praktiken und Einstellungen, die Menschen aus unteren sozioökonomischen Klassen bzw. Klassenmilieus stigmatisieren und/oder diskriminieren und soziale, kulturelle oder ökonomische Hegemonien produzieren oder reproduzieren“ (Gamper/Kupfer, 2023, 129).
Dabei lassen sich unterschiedliche Theorieansätze in der Klassismusforschung ausmachen, die in sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierte und antidiskriminatorische Positionen unterteilt werden: Erstere fokussieren gesellschaftlich-strukturelle Aspekte, letztere „eher Einstellungen und deren Folgen, also die Ebene der individuellen oder auch institutionellen Diskriminierung“ (Gamper/Kupfer, 2023, 128). Im Folgenden werden beide Perspektiven als „zwei Seiten einer Medaille“ (Gamper/Kupfer, 2023, 128) zu berücksichtigen sein. Übertragen auf den Zusammenhang von Bildung und Klassismus bedeutet dies, die institutionelle und strukturelle Verantwortung von Bildungsinstitutionen „bei der Reproduktion von Klassen und damit der ökonomischen sowie sozialen vertikalen Strukturierungen“ (Gamper/Kupfer, 2023, 171) und das Konzept der Meritokratie als Legitimationsfigur dieser Strukturierungen zu reflektieren (Gamper/Kupfer, 2023, 171). Unter Ausblendung klassistischer Prozesse im Bildungssystem lassen sich nach Markus Gamper und Annett Kupfer einseitige Individualisierungstendenzen identifizieren:
„Über die Zuschreibung (angeblich) fehlender Motivation, mangelnder Kompetenz, zu geringer Leistungsbereitschaft oder auch fehlender Resilienz wird das Individuum für seine Lage selbst verantwortlich gemacht. Verschwiegen wird dabei die institutionelle sowie individuelle Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, die in Deutschland immer noch vorzufinden ist“ (Gamper/Kupfer, 2023, 171–172).
Um Klassismus von Religionslehrkräften in der Selbstbeschreibung ihrer diagnostischen Praktiken und in ihrer Rekonstruktion von Leistung zu untersuchen, werden als Datengrundlage Interviews aus dem Projekt DiaLeRu herangezogen. Mit Hilfe der Interviews soll einerseits erhoben werden, inwiefern Lehrkräfte sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierte Dimensionen in ihren Äußerungen über eigene diagnostische Praktiken, Methoden und Ziele erläutern und reflektieren. Zugleich lässt sich in den Interviews analysieren, wie sie in Diagnoseprozessen (z. B. in der Analyse einer Schulbuchseite) selbst diskriminierende Positionen vertreten oder institutionelle Ungerechtigkeiten ausblenden, indem sie bestimmte Merkmale als normal definieren und Abweichungen von den so konstruierten Normen bzw. Idealen kritisieren (Gamper/Kupfer, 2023, 127) oder leistungsbezogen abwerten. Zugleich soll untersucht werden, inwiefern die Lehrkräfte klassismusreflexiv agieren oder umgekehrt zur Reproduktion klassistischer Strukturen beitragen.
Die erhobenen Daten dienen im Projekt originär der Untersuchung von fachdidaktischem, pädagogischem und fachwissenschaftlichem Wissen sowie Überzeugungen von Religionslehrkräften zur Diagnostik und werden nun zusätzlich aus einer Klassismusperspektive reflektiert. Dabei ist zu beachten, dass diese Perspektive nicht explizit in der Interviewleitfadenstruktur abgebildet wurde, sondern vielmehr implizit in der Antwort auf konkrete Fallbeispiele sowie in der Beantwortung sehr offen angelegter Impulsfragen zur Diagnostik auftritt. Hierdurch werden möglicherweise – insbesondere im Zusammenhang offener Frageimpulse – klassismusrelevante Perspektiven von Religionslehrkräften nicht erhoben, die unter einer expliziten Fragestellung oder unter Verwendung konkreter klassismusbezogener Fallbeispiele diagnostiziert worden wären.
Auswahl des Samples
In DiaLeRu wurden in der qualitativen Teilstudie insgesamt 27 Lehrkräfte interviewt. Aus diesem umfassenden Sample wurden für die vorliegende vertiefte Analyse drei Interviews ausgewählt. Die entsprechenden Religionslehrkräfte erteilen an verschiedenen Schulformen (Gymnasium, Realschule, Sekundarschule) RU, der jeweils an zwei Schulen im konfessionell-kooperativen Format und in einer der Schulen als konfessioneller RU erteilt wird. Ihre Berufserfahrung ist sehr heterogen (1 ½ - 24 Jahre Berufserfahrung). Zwei Lehrkräfte sind weiblich, eine Lehrkraft männlich. Die Auswahl basiert neben der heterogenen Berufserfahrung und Schulform auf der Analyse klassismusrelevanter Aspekte. Ausgewählt wurden Interviews, in denen (fehlende) Milieusensibilität sowie der Umgang mit religiöser Heterogenität und Bildungsgerechtigkeit besonders deutlich werden. Interview 2 und 3 veranschaulichen hierbei typische Tendenzen, wie sie im Gesamtsample immer wieder vorkommen. Interview 1 stellt hinsichtlich des klassismusspezifischen Aspektes der Milieusensibilität hingegen eine Ausnahme dar, wie im weiteren Verlauf der Analyse deutlich werden wird.
Methodische Anlage der Studie und Vorgehen
Der halbstrukturierte Interviewleitfaden des qualitativen Teilprojekts von DiaLeRu basiert sowohl auf assoziativen offenen Verfahren sowie auf fallbezogenen Vignetten, die unterschiedliche Anforderungssituationen (Reaktion auf S:S-innengespräch, kriterienbasierte Materialanalyse, Gedankenexperiment) bereitstellen. Um fachspezifische Facetten der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften am Lerngegenstand Schöpfung zu untersuchen (Einschätzung von themenspezifischen Fehlkonzepten von S:S, Fähigkeit zur Entwicklung adaptiver Lernarrangements sowie die kriterienbasierte Einschätzung von Aufgabenqualität), wurden folgende Fragen gestellt:
„Stellen Sie sich vor, Sie hören während einer Erarbeitungsphase im Religionsunterricht das folgende Gespräch zwischen zwei Schüler:innen Ihres Religionskurses.“ „Wie würden Sie die Aufgaben dieser Schulbuchseite vor dem Hintergrund der folgenden Kriterien (motivational-emotionale-Dispositionen, Religiosität, Lese- und Schreibkompetenzen, (fachbezogene) Einstellungen, fachliche Präkonzepte ihrer S:S) bewerten?“
Um den individuellen Zugang der Lehrkräfte zum Thema Diagnostik und die empfundene fachspezifische Relevanz gelungener Diagnostik für den RU zu explorieren, wurden folgende Frageimpulse gestellt:
„Was verbinden Sie mit dem Thema „Diagnostik“ im Religionsunterricht und wie begegnet Ihnen dieses Thema im RU?“
„Individuell fördern in Mathe, Deutsch, Bio, Chemie usw. das ist ja schön und gut, aber ganz ehrlich, in Reli, was wollen Sie dort fördern, Gläubigkeit, Spiritualität, Soft Skills, …? Wie würden Sie reagieren? Und warum?“
„Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Lehrer:innenfortbildung zum Thema „Diagnose“ für den Religionsunterricht besuchen. Was würden Sie sich von dieser Fortbildung besonders wünschen?“
Das quantitativ ausgerichtete Teilprojekt von DiaLeRu wiederum misst mittels Fragebögen, die sowohl die interviewten Lehrkräfte als auch ihre jeweiligen S:S ausfüllen, u.a. die diagnostische Urteilsgenauigkeit der interviewten Lehrkräfte in Hinblick auf heterogene Lernvoraussetzungen (insbes. fachliche Präkonzepte, Religiosität, kulturelles Kapital). Anschließend werden die zwei Teilprojekte miteinander verbunden. Um die quantitativ gemessene Urteilsgenauigkeit mit den in den qualitativen Interviews erhobenen verschiedenen Facetten im Bereich der Diagnostik zu korrelieren, wird eine Ǫuantifizierung der Interviewdaten vorgenommen. Ziel ist es, hierdurch zu erheben, inwiefern entsprechendes diagnostisches Wissen die Urteilsgenauigkeit beeinflusst. Hierzu wird das Verfahren der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse als Variante qualitativer Inhaltsanalyse von Stefan Rädiker und Udo Kuckartz eingesetzt, wobei hier die „Einschätzung, Klassifzierung und Bewertung von Inhalten durch die Forschenden“ (Kuckartz/Rädiker, 2024, 157) im Fokus steht. Die Diskussion von Zweifelsfällen im anschließenden Intercoder-Gespräch öffnet den Raum für vertiefende Einzelfallanalysen, aus denen weitere thematisch inhaltliche Kategorien und fallorientierte Schwerpunkte hervorgehen. Kuckartz plädiert entgegen Mayrings Ansatz der skalierend strukturierenden Inhaltsanalyse, die nach erfolgter Codierung keine qualitativen Analysen vorgibt (Kuckartz/Rädiker, 2024, 175), für die erneute Fokussierung von Einzelfällen, um vertiefende Fallinterpretationen zu ermöglichen (Kuckartz/Rädiker, 2024, 175). An diese fallorientierte qualitative Perspektive knüpft das folgende methodische Vorgehen an: Als vertiefte Auswertung der erhobenen Daten fungieren die Kategorien der „Milieusensibilität“, „religiöse Heterogenität“, „Bildungsgerechtigkeit“ und „Leistung“, mithilfe derer die Interviews inhaltlich strukturierend und fallbezogen ausgewertet wurden. Hierzu sollen zwei typische Fälle, an denen sich wiederkehrende Muster zeigen, sowie ein Fall, der nicht vergleichbar zu den anderen Fällen erscheint, in seiner Einzelfalllogik analysiert werden.
Ergebnis der Fallanalysen
Fallbeispiel 1: Milieusensibilität und Kulturalisierung
Der interviewte Lehrer (L1) hat Geschichte und Evangelische Theologie studiert und unterrichtet seit mehreren Jahren Gesellschaftswissenschaften, Informatik und Evangelische Religion an einer Sekundarschule (Sozialindex 3) in einer Kleinstadt im ländlichen Raum. Der RU wird dort als KoKoRU erteilt. L1 hat ein starkes gesellschaftspolitisches Interesse, insbesondere im BNE-Bereich, weshalb er eine entsprechende AG angeboten hat, die jedoch mangels Nachfrage nicht zustande kam.
Diagnostik betreibt L1 vor allem durch mündliche Gespräche, z. B. in ritualisierten Stuhlkreisgesprächen und offenen Unterrichtsformaten, durch genaue Beobachtung von S:S oder durch Medien wie Lapbooks. Hierdurch bekommt er mit, „wer, woher und wie ein bisschen was auf dem Schirm hat“. Er erörtert die eingebrachten Fallvignetten differenziert und bringt – wenn auch nicht immer fachsprachlich präzise – unterschiedliche fachdidaktische Bezugstheorien mit ein (Komplementaritätsmodell, Stufen religiöser und kognitiver Entwicklung). Im Samplevergleich besitzt die Lehrkraft relativ hohe diagnostische Kompetenzen, die nicht von vielen erreicht werden. Dies zeigt sich vor allem in einem ausgeprägten Elaborieren der Gedanken seiner S:S und dem Abwägen ihrer möglichen Umstrukturierungsschwierigkeiten schöpfungstheologischer Konzepte hin zu einem komplementären Verständnis. Er ist im gesamten Sample die einzige Person, die umfassender milieuspezifische Aspekte reflektiert und in seine Diagnose mit einbezieht. So deutet er das mangelnde Interesse an seiner BNE-AG aus einer sozialen Perspektive:
„Die haben andere Probleme. Das ist jetzt nicht die Dortmunder Nordstadt hier, aber das sind alles Spätaussiedler hier und denen geht es jetzt wirtschaftlich auch nicht so wunderbar. Die gucken eher auf die eigenen Finger als auf die Kinder der Welt oder auch auf Natur oder sonst was.“
Das benennt soziale Lagen als Kontext schulischer Motivationsmuster und berührt damit strukturelle Dimensionen von Ungleichheit. Zugleich betrachtet er „Spätaussiedler“ als ein in sich geschlossene ökonomisch deprivierte Gruppe, die er damit zugleich kulturalisiert bzw. essentialisiert und damit Othering betreibt. Dabei verknüpft er die soziale Frage mit Bildungsmilieus und -standards. „Also Fridays for Future ist für unsere Kinder hier gar kein Fokusthema. Das ist auch, glaube ich, eher ein Akademiker-Kinder-Thema, muss man einfach so sagen.“ Desinteresse und fehlende Motivation wird von L1 somit sozial und milieuspezifisch gedeutet, was in anderen Interviews (sh. a. Fallbeispiel 2 und 3) so nicht geschieht. Auch in weiteren Themenbereichen zeigt sich, dass L1 soziale Aspekte, Lebensstile und Lebenswelten berücksichtigt. Sein diagnostischer Blick richtet sich nicht nur auf Wissensdefizite oder religiöse Vorerfahrungen, die viele interviewte Lehrkräfte primär fokussieren, sondern es geht ihm auch um „persönliche Sachen, also wo sind die Probleme vielleicht zu Hause, warum ist das Kind so? […] wie ticken die überhaupt zu Hause?“ Dieser Blick eröffnet ihm einen erweiterten Blick auf das vielfach konstatierte Motivationsproblem durch mediale Überstimulation:
„Unsere Kinder, die sind so overstimulated mit Medien und eigentlich müsste das am besten 3D animiert und wenn ich da wirklich ein ‚woah‘ haben wollte, um irgendjemanden zu holen, dann müsste ich ja eigentlich müsste ich dann wahrscheinlich eine VR-Brille aufsetzen, in dem dieser Text rumschwirrt und noch irgendwelche wilde Musik da drüber. Also, ohne das schlechtreden zu wollen, aber das ist ein Problem für die Generation. Also finde ich, dass die an der…; Schule kämpft halt gegen dieses Multimediale an, eine Motivation zu kriegen, fängt beim Spielen an, die werden für jeden Scheiß belohnt. ‚Logg dich einmal da ein, dann kriegst du einen Punkt.‘ Das können unsere Noten ja gar nicht so, also diese Motivation kann unsere Noten gar nicht geben. Also eigentlich muss man, und das machen wir bei mir in der Klasse auch mit Punktesystemen, ‚ja, du hast du eine gute Stunde gemacht, da kriegst du einen Punkt.‘ Am Ende kannst du die Punkte irgendwie ausgeben. Zehn Punkte kannst du in den (unv.). So kriegt man eigentlich, böse gesagt, Bonbon-Pädagogik, nur ohne Bonbons, aber die sind da so drauf gepolt aus ihrer Freizeit.”
Bei ihm ist es somit nicht (allein) mangelndes Interesse am Fach, sondern die unterschiedlichen mediale Welten, in denen die S:S sich in der Schule bzw. in der Freizeit aufhalten. Deshalb sieht er auch religionspädagogische Bemühungen um eine ansprechende ästhetische Sprache kritisch: „Kirchliche Popmusik ist nicht angesagt, das muss man einfach so sagen und dass man versucht da so ein bisschen aktueller zu sein, ist ganz ganz schwierig, das holt die nicht ab. Also grundsätzlich ist das ist schön aufgemacht, ne? Und das trifft aber auf 90er Jahre Kinder zu.“ Hiermit spielt er indirekt auf die mangelnde Milieusensibilität von Lehrkräften an, die oftmals ihre eigne Milieugebundenheit (religiöse Sozialisation Ende des 20. Jahrhunderts, kirchlich gebunden…) nicht reflektieren.
Milieuorientierung ist für ihn auch ein Zugang, um Genderfragen zu diagnostizieren und zu thematisieren. Er nimmt wahr, dass er Jungen, geprägt durch ihren Mediengebrauch, „immer kriegt, mit illegalen Dingen oder mit Gewalt als Bild. Das erlebe ich auch in Geschichte so, also in den Geschichtsthemen. Das zieht noch. Aber nur weil das [Schulbuchseite] hübsch ist, da kriege ich vielleicht ein paar Mädels mit, aber die Jungs…“. Zwar nimmt er hier Jungen und Mädchen sehr pauschal und klischeehaft war, aber ihm sei ein gendersensibler Unterricht wichtig, um tradierte Geschlechterbilder
„ein bisschen aufzubrechen, weil die hier auch noch sehr traditionell (unv.); Ich sagte ja Spätaussiedler, viele (unv.)-Deutsche hier, die haben natürlich auch nochmal ein extrem traditionelles Familien- und Weltbild. Da ist es mir eher ein Anliegen, daran zu arbeiten, dass es sich weiter öffnet, ohne denen das jetzt vorzugeben, aber ich muss denen halt andere Weltbilder anbieten, weil sie es zuhause nicht haben.”
Erneut rekurriert L1 somit einerseits pauschal auf die Gruppe der Spätaussiedler, deren Familien- und Weltbild er als „natürlich […] extrem“ kritisiert. Andererseits leitet er aus dieser Diagnose Lerngegenstände oder -bedarfe ab, nämlich die Notwendigkeit unterschiedliche Weltbilder anzubieten, um Lernvoraussetzungen und -vorerfahrungen zu weiten.
Am Ende des Interviews verdeutlicht er darüber hinaus, dass er diagnostisch nicht nur diese S:S-gruppe bzw. unterschiedliche Milieus diagnostisch im Blick hat: „Jedes Kind hat seinen Anspruch und Recht, am Religionsunterricht richtig teilnehmen zu können. Also auch, wenn ich das jetzt nicht so in dem Fokus hatte.“ Daher müsse er auch Lernhürden, wie z. B. mangelndes Textverständnis diagnostizieren und vielfältige Zugänge schaffen. Und wenn ein Kind „blind ist, dann muss es das halt irgendwie anders erfahren können. Also das ist schon relevant für den Religionsunterricht.“
Fallbeispiel 2: Polarisierung religiöser Heterogenität
Seit über 20 Jahren unterrichtet die interviewte Lehrerin L2 Katholische Religion und Englisch an einem Gymnasium (Sozialindex 2) in einer Mittelstadt. Sie beschreibt sich als sehr authentische Lehrkraft, die ihre eigenen Ansichten und Gefühle stark und oftmals spontan in den Unterricht einbringt: „Ich habe immer das Gefühl, in Religion ist es eher so ein Gefühl, was ich vermittle, also ein gutes Gefühl und nicht dieses Wissen und Kompetenzen.“ Weniger konzeptionell ist auch ihr Zugang zur Diagnostik, die sie eher als eine mitlaufende Tätigkeit versteht (on-the-fly-Diagnose), die sich primär auf Unterrichtsgespräche bezieht. Eher allgemein bleibt daher auch ihre Grunddiagnose, dass S:S sehr wenig Vorwissen mitbringen, wenig religiös sind und ein kumulativer Aufbau von Wissensbeständen und langfristiger Lernzuwachs im RU – im Unterschied zu anderen Fächern – schwer zu erreichen sei. Emotional reagiert L2 auf ihre Wahrnehmung, dass viele S:S den Schöpfungs- und Wunderglauben „naiv nennen“:
„Die sind ja schon extrem wissenschaftlich unterwegs, das kann man ja nicht anders sagen. Also das Traurige ist manchmal, finde ich, dass die Schülerinnen und Schüler, die glauben oder die auch sagen, ‚ich glaube auch an Wunder‘ oder ‚ich habe schon Wunder erlebt‘, dass die so belächelt werden und da ist ganz viel, eigentlich ist man cool, wenn man das ganze Bibelgedöns infrage stellt, weil das ist ja auch nicht mehr zeitgemäß.“
Aufschlussreich ist, dass L2 hierbei nicht reflektiert, dass ihre gefühlsorientierte starke Positionalität von den S:S möglicherweise als Kontrast zu einem (natur-)wissenschaftlich geprägten Weltbild, das mit der Formulierung „extrem wissenschaftlich“ von der Lehrkraft vermutlich beschrieben werden soll, wahrgenommen wird und sie dies als „naiv“ bewerten.
Auch scheint ihre Gesprächsführung im RU von Normalitätsvorstellungen geleitet zu sein, die sie als Teil ihrer Authentizität betrachtet:
„Also ich glaube ich bin einfach so ein total authentischer Mensch, also da ist immer das was ich denke, kommt für gewöhnlich dann auch so raus also ((lacht)) oder wenn ich dann irgendwie in der Ǫ1 bin und ich sage, ich frage was, wo ich der Meinung bin das müssen die jetzt aber wissen, ne? Und dann sitzt man da und 25 Fragezeichen im Gesicht und man sagt ‚Leute, das gibt es nicht. Das kann nicht sein. Das ist
Allgemeinwissen.‘ Aber ich habe da überhaupt nicht irgendeine Grundlage, auf der ich agiere. Das ist einfach so, was ich denke und was mir wichtig ist, den Schüler:innen mitzuteilen. Das kommt dann auch einfach so raus.“
Auf Basis ihrer eigenen Haltung, die stark von Intuitionen geleitet zu sein scheint, setzt sie normativ, was „Allgemeinwissen“ sein müsse und was sie als defizitär bewertet. Dabei scheint sie den Unterrichtsinhalt stark daran auszurichten, was ihr wichtig erscheint und was sie stark gefühlsbetont einbringt. Dass das von ihr wiederholt diagnostizierte fehlende religiöse Vorwissen sowie das geringe religiöse Interesse und die mangelnden Erfahrungen auch mit ihren Normalitätsvorstellungen zusammenhängen und deshalb unkontrolliert in ihre Bewertungen einfließen können, wird nicht thematisiert. Solche Standards können klassistisch wirken, wenn nicht reflektiert wird, dass „Allgemeinwissen“ sozial ungleich verteilt ist und mit Milieueffekten im Bildungssystem und verschiedenen sozialen und kulturellen Ressourcen zusammenhängen kann.
Im Kontrast hierzu bezeichnet L2 „Schülerinnen und Schüler, die polnischen Familienhintergrund“ haben, als „extrem religiös, also gläubig und auch mit gutem Vorwissen“. Diese S:S würden durchaus an Wunder und an die Entstehung der Schöpfung durch Gott glauben. Hier wird Religiosität an „polnischen Familienhintergrund“ gebunden – ein Muster, das ethnische und religiöse Zugehörigkeiten schnell vermischt und stereotypisiert. Doch auch diesen „polnischen“ Glauben betrachtet sie als defizitär, gar als hochproblematisch, da diese S:S häufig ein wortwörtliches Schöpfungsverständnis besäßen: „Oder die auch, wenn es um LGBTǪ-Dinge geht, die ganz radikal sagen, es ist eine Sünde, das darf man nicht, das steht in der Bibel. Das ist meistens so tatsächlich auffallend polnischer Hintergrund.“ Auch im weiteren Verlauf beschreibt sie die Religiosität der S:S, die sie überhaupt noch als religiös ausmacht, als problematisch und negativ, wobei sie erneut als „Maßstab“ ihre eigenen Überzeugungen setzt.
„Wenn ich mit meinen Erwartungen und mit meinen Glaubensüberzeugungen in die Klasse gehe und davon ausgehe, okay, da sind jetzt junge Menschen, die im Jahr 2024 leben und dann habe ich halt solche Äußerungen wie, ja ‚wer schwul ist, hat gelitten‘ oder sowas. Da ist irgendwas krank. Dann gehe ich natürlich in diese Diagnose und hinterfrage das. Wo kommt diese Einstellung her?“
Interessanterweise bleibt diese Frage unbeantwortet stehen. L2 gibt keine Erklärungsansätze, außer Verweise auf den häuslichen Kontext. Dies ist umso irritierender, da sie die Einstellungen ihrer S:S an dieser Stelle als „krank“ bezeichnet. Auch wenn sie den Begriff metaphorisch verwendet haben sollte, so pathologisiert sich hierdurch dennoch die Einstellungen. Aufschlussreich ist auch, wie sie auf diese (offene) Diagnose reagiert.
„Dann stelle ich mich dagegen und sage, ja, in meiner Welt ist es aber nicht so, weil Gott ist die Liebe. Und das ist für mich vorherrschend. Ich versuche dann schon zu hinterfragen, wo diese Einstellungen herkommen und gehe auch relativ offen in den Konflikt tatsächlich. […] Und, also, die Diagnostik ist ja nicht nur, was glaubt der Schüler, sondern auch kann ich den überzeugen, darf ich den überzeugen, was, die Diagnostik geht ja auch über den Schüler hinaus, ne? Wie reagieren die Eltern wenn der Schüler zuhause sagt „Frau (Name) hat aber gesagt, bei ihr darf jeder jeden lieben“? Und ich glaube, dass die, ich habe das noch nie bewusst Diagnostik genannt, das ist ja was, was total unterbewusst läuft, dieses Hören, Einordnen, Reagieren.“
Losgelöst von der Frage, wie kontrovers oder konfrontativ Lehrkräfte auf homophobe S:S-äußerungen reagieren müssen, wird hier erneut deutlich, dass es die Strategie von L2 ist, ihre eigene Position emotional auch konfliktuös und mit religiösem Eindeutigkeitsanspruch entgegenzusetzen. Der von ihr spontan extrapolierte Dreischritt „Hören, Einordnen, Reagieren“ ist damit stark subjektivistisch geprägt: Sie ordnet die S:S-äußerungen in ihr Weltbild ein und reagiert, indem sie dieses (konfrontativ) in den Unterricht einbringt.
Über die polnische hochreligiöse Gruppe hinaus macht L2 eine zweite hochreligiöse – und aus ihrer Sicht erneut problematische - Gruppe aus, die sie allerdings nur als Klassenlehrerin kennt, da sie nicht den katholischen RU besuchen.
„Es gibt immer wieder Probleme damit, dass wir muslimische Schüler haben, die unsere Werte, also unsere christlichen Werte so verurteilen. Also das ist ganz häufig so, dass die Schüler sagen, ‚ja, ne Karneval, mir ist es verboten beim christlichen Fest, Festen teilzunehmen und ich bin da auch sehr stolz drauf, weil Karneval ist ja, ich möchte nicht saufend und brüllend auf der Straße stehen.‘ Dass ich dann sage, ‚mal hier, findest du nicht, also glaubst du, du bist jetzt klüger oder mehr wert als ich, zum Beispiel. Nee, warum? Ja, weil ich gehe zum Beispiel Karneval feiern und ich trinke dann auch Bier und übrigens, das ist doch gar kein christliches Fest, so ne?‘ Und dass ich immer wieder zu meinen muslimischen Jungs meistens, das ist echt so ein total krasses, so eine Klischee-Bestätigung leider, immer wieder sagen muss: ‚Pass auf, wir sind hier, also ich, ich kann nur für mich reden, aber wahnsinnig tolerant, was dein Glauben angeht, ich kenne mich mit deinem Glauben auch in gewisser auch aus. Ich kenne meinen Glauben und du erwartest doch, dass ich dich respektiere und dich sehe in dem, was dir wichtig ist. Und genauso erwarte ich das quasi von dir.‘“
Zwar versucht sie sprachlich deutlich zu machen, dass sie nicht undifferenziert alle muslimischen S:S gleich betrachtet, aber dennoch deutet ihre Wortwahl darauf hin, dass sie die Mehrheit („häufig“; „Klischee-Bestätigung“) der (männlichen) muslimischen Jugendlichen meint. Dabei macht sie – erneut emotional und konfrontativ – Gegensätze auf, wodurch sie (indirekt) den muslimischen Glauben als intolerant und nicht von „hier“ bezeichnet und die (männlichen) muslimischen Schüler als uninformiert, arrogant und nicht respektvoll bewertet.
Die Lehrkraft problematisiert, dass es an ihrer Schule keinen institutionalisierten Ort für interreligiöses Lernen für die muslimischen S:S gibt, da diese im Philosophieunterricht wären. Dieser entzieht sich nach Ansicht von L2 religiösen Fragen und Problemstellungen.
„dann kommt der Philosophielehrer und sagt, (unv.) hat aber heute das und das gesagt, dann musst du mal reden oder wo ich dann ganz oft denke, ja, rede du doch mal, also hä, du warst doch da vor Ort. Und deswegen werde ich regelmäßig darüber informiert, wenn halt eben so religiöse Beleidigungen oder ein Aussetzen der Menschenrechte ((lacht)) oder was auch immer, wenn da irgendwelche Fehltritte sind bei den Muslimen, dass ich dann aber mich bitte darum kümmern soll.“
Hier kann nicht vertiefend erörtert werden, wie auch Philosophielehrkräfte mit religiösen oder diskriminierenden Beleidigungen oder anderen Menschenrechtsverletzungen didaktisch umgehen müssen. Für eine klassismusreflexive Diagnose ist jedoch aufschlussreich, dass L2 erneut undifferenziert von „den Muslimen“ spricht und ihre nicht zu tolerierenden Aussagen damit als muslimisch begründet betrachtet. Hier wird – wie auch bei den polnischen S:S – hohe Religiosität als problematisch betrachtet. Religion bzw. Religiosität wird somit zu einer Differenzkategorie, die an dieser Schule aus Sicht von L2 nur asymmetrisch bearbeitet wird. Während im katholischen RU interreligiöse Lernprozesse stattfinden, würden muslimische S:S im Philosophieunterricht intolerante, menschenverachtende Äußerungen tätigen.
„Also das hört sich jetzt total blöd an, aber dass quasi die katholischen LehrerInnen und SchülerInnen bemühen, flächendeckend, okay, aha, die Juden glauben das und die Muslime glauben das und die Buddhisten glauben das und ach, das ist ja interessant und dann so krass an sich arbeiten und so eine super Toleranz entwickeln, wenn aber aus dem Philosophieunterricht immer wieder Sachen kommen, die mit Menschenrechten nicht mehr viel zu tun haben, also Äußerungen von SchülerInnen, wo ich dann denken würde, ne, ne.“
Losgelöst von der Tatsache, dass es empirisch bislang kaum belegt ist, dass im katholischen RU interreligiöses Lernen zu mehr Toleranz führt, ist es hier erneut auffällig, dass L2 zwar einerseits – gut begründet – kritisiert, dass der Philosophieunterricht scheinbar Religion nicht thematisiert und sich in Menschenrechtsfragen nicht normativ positioniert. Andererseits mündet ihre Kritik nicht in einer differenzierten Analyse dieser asymmetrischen institutionellen Situation (bekenntnisorientierter RU versus „neutraler“ Philosophieunterricht; fehlender Islamischer RU; …), sondern bleibt bei der Kritik an den Äußerungen der muslimischen S:S stehen.
Zentrale Kategorie der Diagnose der interviewten Lehrkraft L2 stellt somit die Religiosität dar. Dabei diagnostiziert sie zum einen ein großes religiöses Unwissen und Desinteresse bei der Mehrheit der S:S. Zentraler Maßstab ihrer eher spontanen Diagnose ist ihre eigene Religiosität. Damit folgt sie einerseits dem Anliegen religiöser Bildung im konfessionellen RU, (religiöse) Positionen bekenntnisorientiert einzubringen. Andererseits geschieht dies nach eigenen Aussagen weitgehend spontan, „authentisch“ ungebrochen sowie emotional. Vielleicht liegt es an der Art und Weise, wie sie ihre religiösen Positionen einbringt, dass S:S diese oftmals als „naiv“ bewerten. Die Lehrkraft macht die Wissenschaftsorientierung der S:S und ihre Annahme, dass „man cool [ist], wenn man das ganze Bibelgedöns infrage stellt, weil das ist ja auch nicht mehr zeitgemäß“ als Grund für diese Abwertung aus, ohne weitere mögliche Aspekte zu diagnostizieren. Zudem macht sie polnische und muslimische S:S als zwei hochreligiöse Gruppen aus, die zwar religiöses Interesse und Vorwissen mitbrächten, die sie aber zum Beispiel in Bezug auf ihre abwertende Haltung zu Sexualität außerhalb der Heteronormativität als problematisch betrachtet. Damit nimmt sie religiöse Heterogenität weitgehend polarisierend wahr: Hochreligiös und problematisch auf der einen Seite und religiös desinteressiert auf der anderen Seite.
Fallbeispiel 3: Leistung und Bildungsgerechtigkeit
Die Lehrerin L3 arbeitet seit ca. eineinhalb Jahren an einer Realschule (Sozialindex 3) in einer Kleinstadt mit den Fächern Französisch und Katholische Religionslehre. Davor hat sie ihr Referendariat für das Lehramt Sek I/II für Gymnasien/Gesamtschulen absolviert. An ihrer Schule unterrichtet sie Religion im KoKoRU.
Unter Diagnose versteht sie primär die Erhebung der Lernausgangslage, indem sie je nach Thema und Altersstufe variierenden Zugängen wählt, um Lernvoraussetzungen, - vorwissen sowie Einstellungen und Haltungen zu erfassen. Damit hat sie eine Grundhaltung und entsprechendes methodisches Instrumentarium, um fachlich differenziert und heterogenitätssensibel ihre Lerngruppen zu erfassen. Zentrales Anliegen im RU ist es ihr, die starken Defizite im Verständnis (religiöser) Sprache zu bearbeiten und zur (religiösen) Sprachfähigkeit beizutragen.
„Also alleine schon die Sprache ist ja echt sperrig und es gibt viele Kinder, die da überhaupt nichts mit anfangen können und die, das kennt man natürlich auch aus dem anderen Unterricht, die halt auch viele Wörter dann nochmal erklärt brauchen oder irgendwie mit Hilfe-Kärtchen dann irgendwie arbeiten müssen. Genau, aber das ist auf jeden Fall erforderlich, auch im Reli-Unterricht, weil natürlich die kein, ja, die haben ja keine gleichen Voraussetzungen.“
Aufschlussreich ist, wie die Lehrkraft im Verlauf des Interviews diese diagnostisch breite Perspektive zunehmend auf Leistungsfähigkeit und Lernmotivation eingrenzt und die Kategorien (mangelnde) religiöse Sozialisation, Leistung und soziales Umfeld miteinander in Beziehung setzt. Eine zentrale Ursache für fehlendes religiöses Vorwissen sieht sie in der mangelnden religiösen Sozialisation. „Also ich finde halt grundsätzlich wichtig, dass die, ja, dass man die Lebenswelt einfach mit berücksichtigt, weil super viele Kinder keinen Bezug zu Religion haben oder gar zu Kirche oder Religiosität.“ Auch der hohe Konsum von Videospielen trage zur mangelnden religiösen Sensibilität bei, da sich die S:S hierdurch „im Prinzip geistig um nichts kümmern.“
Demgegenüber macht sie zwei andere Gruppen aus. Erstens hebt sie orthodoxe S:S hervor, denen sie stereotyp zuschreibt, dass diese „orthodox auch aufgewachsen sind, dass die sich meistens auch schon besser auskennen, viel mehr Dinge auch sowieso kennen, irgendwie bibelfester sind.“ Auf diese Gruppe geht sie im weiteren Verlauf nicht weiter ein und äußert sich auch nicht zu ihren Schulleistungen. Als zweite Gruppe markiert sie leistungsstarke S:S, „da ist ein Interesse vorhanden. Da ist auch ein Interesse seitens der Eltern vorhanden. Also da wird sich gekümmert. Da sind viele auch mit einem religiösen Hintergrund, die Messdiener sind oder die auch ein Interesse so grundsätzlich an religiösen Fragen haben.“ Wenn auch eher oberflächlich, diagnostiziert sie Gründe für Motivation und Leistungsfähigkeit: Ein unterstützendes Elternhaus und eine außerschulische religiöse, speziell katholische Sozialisation scheinen sich in ihrer Wahrnehmung positiv auf Lernvoraussetzungen und -prozess auszuwirken. Zugleich kritisiert sie Aufgabenformate im RU, die a priori Leistungs- und Lernräume im RU auf religiöse S:S hin verengen:
„Und ich finde, man muss dann auch einfach differenzieren und dann einfach sagen, okay, man verfasst einen Text, der aber nicht religiös gehalten sein muss, damit man halt weiß, okay, ich kann auch als vollkommener (.) nicht-religiöser Mensch oder ja, im Prinzip, es sind ja natürlich keine Atheisten, aber als Mensch, der überhaupt nicht an Gott glaubt und das komplett ablehnt, kann ich immer noch auch eine gute Leistung erbringen in Reli und kann mich natürlich auch selbst bilden in diesem Fach und kann das einfach als Chance nutzen, kann meine eigene Auffassung oder mein eigenes Weltbild da auch kommunizieren und das wird gehört und das wird auch irgendwie wertgeschätzt und genau, das muss auch einfach drin sein und das ist dann teilweise bei einigen Aufgaben nicht so drin, aber ja, wenn man es verändert, dann geht es auf jeden Fall. Genau.“
Demgegenüber fällt ihre Diagnose der Gründe für „Leistungsschwächere“ undifferenzierter aus. In einigen Religionskursen kämen „Leute [zusammen], die halt leistungsschwach und verhaltensauffällig sind und so weiter und so weiter.“ Von L3 werden hier keine sozialen oder institutionellen Gründe für die wahrgenommenen Leistungs- und Verhaltensdefizite benannt. Im weiteren Verlauf schildert sie jedoch umfassender die Auswirkungen der verhaltensauffälligen Schüler. Hier bleibt unklar, ob sie explizit nur Jungen im Blick hat, da sie im gesamten Interview durchgängig die grammatikalisch männliche Form verwendet.
„Also, dass die sehr hervorstechen, tatsächlich und dass teilweise dann so eine ganze Lernatmosphäre in dem Kurs dann gestört ist. […] Durch ein bis zwei Schüler, die man in jedem Kurs sitzen hat, die wirklich verhaltensmäßig das zerstören. […] Aber die Heterogenität doch, also die Schere, die geht dann extrem auseinander von sagen wir mal von dem leistungsstärksten und motiviertesten Schüler, den man in so einem Kurs sitzen hat, bis zum unmotiviertesten, verhaltensauffälligsten und leistungsschwächsten Schüler.“
Auffallend ist, welche Pole sie im Verlauf ihrer Ausführungen aufmacht: Leistungsstärke und Motivation auf der einen Seite und mangelnde Motivation, Leistungsschwäche und Verhaltensauffälligkeit auf der anderen Seite. Insbesondere die Kombination von Leistungsschwäche und Verhaltensauffälligkeit wird nicht weiterführend thematisiert und es werden hierfür keine Ursachen benannt. So wird indirekt ein Bild skizziert, dass die religiösen (katholischen) S:S aus unterstützenden Elternhäusern lernstark, wohingegen die nicht-religiösen S:S schwächer und unmotivierter – und z.T. auch verhaltensauffällig seien, wobei sie potenzielle strukturelle Ursachen (z. B. ungleiche Bildungschancen, Milieueffekte) nicht erwähnt.
Insgesamt diagnostiziert die Lehrkraft Lern- und Unterrichtsprobleme, die weit verbreitet sind. Sie richtet einen besonderen Fokus auf die aus ihrer Sicht schwierigen S:S, ohne dabei differenzierter zu erläutern, welche Gründe hierfür zu veranschlagen sind. Weitgehend wird mangelnde religiöse Sozialisation und an einer Stelle auch ein starker Medienkonsum als Ursache hierfür angenommen.
Fallvergleich
In den drei Interviews zeigen sich unterschiedliche Herangehensweisen an Diagnostik und Wahrnehmung von S:S, die jeweils von impliziten Vorstellungen über Leistung, Milieu und Religion geprägt sind. Vergleicht man die Interviews, so fällt auf, dass L1 derjenige ist, der am deutlichsten milieuspezifische Faktoren in seine Diagnosen einbezieht. Er benennt explizit soziale Lagen, mediale Prägungen und familiäre Wertorientierungen als relevante Einflüsse auf Motivation und Lernverhalten. Dabei zeigt er klassismuskritische Sensibilität, etwa wenn er strukturelle Benachteiligung als Erklärung für Desinteresse an schulischen Projekten heranzieht. Allerdings ist seine Perspektive ambivalent, weil er ganze Gruppen („Spätaussiedler“) homogenisiert und damit stereotype Vorstellungen reproduziert.
Hiervon unterscheidet sich L2 stark. Sie deutet Unterschiede vor allem über religiöse Zugehörigkeit und polarisiert zwischen „religiös desinteressiert“ und „hochreligiös-problematisch“. Klassismusrelevante Faktoren wie die sozioökonomische Lage oder der Bildungshintergrund der S:S werden nicht reflektiert. Ihre Diagnostik ist stark subjektiv, emotional und normativ geprägt; sie misst Schülerinnen an eigenen Vorstellungen von Religiosität und Toleranz. Dabei konstruiert sie ethnisch-religiöse Gruppenbilder („polnische“ bzw. „muslimische“ Schülerinnen), die problematische stereotype Zuschreibungen enthalten.
L3 nimmt – ähnlich wie L2 – eine eher defizitorientierte Perspektive auf leistungsschwache S:S ein, jedoch mit stärkerem methodischem Fundament in ihrer diagnostischen Vorgehensweise zu Beginn. Sie verknüpft Leistung mit religiöser Sozialisation und familiärer Unterstützung, ohne jedoch systematisch strukturelle Bildungsungleichheiten zu berücksichtigen. Während L1 strukturelle Ursachen explizit benennt und L2 sie weitgehend unerwähnt lässt, deutet L3 sie implizit an, zieht daraus aber keine analytischen Schlüsse.
Alle drei Interviews verdeutlichen, wie stark differenztheoretische Kategorien (Milieu, Religion, Leistung, Herkunft, kulturelles Kapital) in der Diagnosearbeit von Lehrkräften wirken, jedoch unterschiedlich differenziert und kontextualisiert werden.
In allen Fallbeispielen werden zur beispielhaften Veranschaulichung diagnostischer Praktiken S:S herangezogen, die als „Problemgruppen“ konstruiert werden. Diese Gruppen werden von den Lehrkräften in der Regel religiös (muslimisch, orthodox) oder ethnisch-national (polnisch; Spätaussiedler) gebildet. In der Migrationspädagogik werden solche Zuordnungen weiter ausdifferenziert und von „natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit“ (Mecheril/Varela/Castro Varela et al., 2010) gesprochen, wodurch deutlich wird, dass einfache Zuschreibungen, also z. B. „polnisch“, zu kurz greifen. Diese Zugehörigkeit setzt zweierlei voraus: Einerseits, dass „natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit immer auch von anderen Differenzverhältnissen vermittelt wird, und umgekehrt, dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit die Bedeutung zum Beispiel der sozioökonomischen oder Klassenlage vermittelt.“ (Mecheril/Varela/Castro Varela et al., 2010, 13-14)
Pädagogisch birgt dies ein Dilemma, das auch in den Interviews zum Ausdruck kommt. Besonders deutlich wird dies bei L1. Er diagnostiziert am ehesten im Sinne einer strukturorientierten Klassismusreflexion, indem er Milieus, soziale Lagen und deren Einfluss auf Bildungschancen explizit benennt. In Ansätzen analysiert er somit intersektional, indem er strukturelle Machtverhältnisse (z. B. ökonomische Ressourcenknappheit, mediale Überstimulation, traditionelle Rollenbilder) berücksichtigt (Binici/Hiller, 2025). Diese Sensibilität wendet er auch auf die „Spätaussiedler“ an, zugleich vollzieht er damit gruppenhomogenisierende Zuschreibungen, womit eine Reifizierung von natio-ethno-kultureller Differenz einhergehen kann, sodass eine diskursive Verfestigung von Stereotypen an die Stelle einer Analyse sozialer Ungerechtigkeiten treten kann. Zwar wird diese mögliche Verfestigung von Stereotypen von L1 nicht bewusst zum Gegenstand der Reflexion, allerdings benennt er den Wunsch nach einer Erweiterung eigener Kompetenzen im Bereich der Diagnostik, wenn er als Fortbildung nicht explizit eine Schulung im Umgang mit Diagnosebögen wünscht, sondern
„eher eine Schulung an der eigenen Sozialkompetenz, die ich wichtiger fände […]. Und selber ausprobieren, probieren, oder auch vielleicht, wie man einen Gesprächsanlass schaffen kann, der gezielt so religiöse Voraussetzungen hervorbringt oder provoziert, dass die Kinder darüber reden, das ist natürlich auch, also schon fast im Bereich der sozialen Arbeit schon fast, also so professionelle Beratung, also Beratungsmechanismen kennenlernen.“
Anknüpfend an den Begriff des Formativen Assessments markiert er Fortbildungsbedarfe im Bereich der Entwicklung von Gesprächsanlässen mit diagnostischem Potenzial sowie Feedback und Beratung. Insbesondere die Dimensionen von Feedback und Beratung sind hervorzuheben, da diese im Gesamtsample selten in das Diagnoseverständnis integriert werden.
In den anderen zwei Interviews werden Stereotypisierungen und Reifizierungen noch deutlicher vorgenommen, wobei insbesondere Religion zu einer wichtigen, aber problematischen Differenzkategorie wird und soziale Ungerechtigkeitsdimensionen weitgehend ausgeblendet bleiben. Besonders deutlich wird dies bei L2. Sie diagnostiziert religiöse Heterogenität primär entlang ethnisch-religiöser Zugehörigkeit („polnisch“,
„muslimisch“) und polarisiert zwischen „hochreligiös-problematisch“ und „religiös desinteressiert“. Sie bewertet dies stark normativ aus ihrer eigenen religiösen Perspektive. Klassismusrelevante Faktoren (z. B. sozioökonomische Lage) bleiben unsichtbar. Aus intersektionaler Sicht handelt es sich um einseitige Single-Axis-Diagnosen (Knauth, 2020, 5; Binici/Hiller, 2025, 23), die Religion als „machtvolle Differenzkategorie“ (Brandstetter, 2023, 91–99) nutzen, ohne deren Verwobenheit mit anderen Kategorien zu analysieren. Erkan Binici und Simone Hiller (2025) weisen darauf hin, dass die Kategorie „Religion“ wegen intrareligiöser heterogener Glaubenstraditionen und Sozialisation zu grobmaschig sei, „um hilfreich für eine Diagnostik von Problemursachen zu sein“ (Binici/Hiller, 2025, 25). Auch multiple Konfessions- und Religionszugehörigkeiten in Familien erschweren einfach zu benennende religiöse Sozialisationen. Zudem besitzen viele religionsbezogene Kategorien „zugrundeliegende klar machtasymmetrische Codierungen, wie z. B. Minderheits- vs. Mehrheitskonfession/-religion, als heimisch vs. als migriert wahrgenommene Konfessionen/Religion“ (Binici/Hiller, 2025, 25). Auch die Zuschreibung, Jugendliche mit Migrationshintergrund identifizierten sich stärker mit Religion und seien religiöser, muss empirisch differenziert werden. So trifft dies für muslimische und christlich-orthodoxe Jugendliche stärker zu als für katholische oder evangelische S:S mit Migrationshintergrund (Riegel/Zimmermann/Hohenschue, 2023, 7880).
Im Vergleich von L1 und L2 lässt sich analysieren, wie unterschiedlich mit als religiös problematisch wahrgenommenen Weltbildern umgegangen werden kann. L1 nimmt bei den „Spätaussiedlern“ aus seiner Sicht „extrem traditionelle“ Familien- und Geschlechterbilder wahr, die er kritisiert und die er aufbrechen und erweitern möchte, was mit Gayatri C. Spivak (1987, 205) als strategischer Essentialismus bezeichnet werden kann. L2 hingegen kritisiert und konfrontiert Welt- und Geschlechterbilder ihrer S:S (z. B. Homophobie), bewertet diese und setzt gefühlsbetont unter Bezugnahme auf eigene religiöse Positionierungen ihre Einstellung als normal entgegen. Beide Lehrkräfte kritisieren und problematisieren von ihren S:S vertretene Weltbilder, integrieren jedoch ihre eigene Perspektive auf diese Weltbilder auf unterschiedliche Weise in ihre Reaktion: Während L1 eine Öffnung und Weitung der Perspektiven seiner S:S durch das Angebot anderer „Weltbilder“, „ohne denen das jetzt vorzugeben“, anstrebt, nimmt L2 eine konfrontative Gegenüberstellung mit ihrem eigenen Weltbild vor. Allerdings muss hier ein Unterschied zwischen den traditionellen Familienbildern, von denen L1 berichtet, und den von L2 geschilderten homophoben Äußerungen und Menschenrechtsverletzungen gemacht werden. Dennoch zeigt sich in diesen Diagnosesituationen beispielhaft, wie emotional eingebrachte Normalitätsvorstellungen dazu beitragen können, Vor- und Einstellungen zu reproduzieren.
Bei L3 zeigt sich eine in Ansätzen meritokratische Deutung (Lessenich, 2012), bei der strukturelle Ungleichheit als erklärende Kategorie in den Hintergrund tritt. Die Annahme, dass „fördernde Eltern“ und „religiöse Bindung“ automatisch zu Leistungsstärke führen, blendet klassismusrelevante Bildungsbarrieren aus und reproduziert hierdurch möglicherweise ein implizites Leistungs-Moralisierungsnarrativ. Aus intersektionaler Perspektive werden mehrdimensionale und strukturelle Ungleichheiten nicht berücksichtigt. Dies verdeutlicht, wie implizite Bildungsnormen (Leistung als Maßstab) andere Differenzlinien – etwa Milieu, Geschlecht, Religion – überlagern oder unsichtbar machen können. Allerdings zeigen die empirischen Studien auf (Unser, 2019; Hock/Käbisch, 2023), dass insbesondere religiöse S:S sich am RU (hier speziell am interreligiösen Lernen) beteiligen und hiervon profitieren, andere Faktoren (Geschlecht, sozio-kulturelles Kapital) spielen hingegen kaum eine Rolle. Dieser Befund stützt die Diagnose von L3.
Die in L3 dominierende meritokratische Deutung lässt sich allerdings im Vergleich mit anderen Interviews aus dem Gesamtsample von DiaLeRu nicht als typisierend klassifizieren, da das Leistungsprinzip selbst in anderen Interviews häufiger zum Gegenstand der Kritik wird, wie hier beispielhaft deutlich wird:
„[S]o eine Form von Leistungsgesellschaft, die genau diesen Aspekt vergisst, wo wir dann eben immer wie so, wie in so einem Rädchen sind und meinen, dass wir durch das Funktionieren auch leben und durch das Geld bekommen, dann eben auch leben. Und da glaube ich, dass das der große Irrtum ist. Dass Leben von was anderem abhängt, als dass ich Geld in der Tasche habe oder dass ich ähm, ne, eine Arbeit habe, ist gut. Natürlich ist das gut. Wenn ich es mit Freude und allem wieder tue, dann ist das alles wieder super. Aber dass Leben an andere Dinge gekoppelt ist. Ich kann auch lebend tot sein. Also wenn da keine Regung in mir ist.“
Diese Kritik an einer einseitigen Leistungsfokussierung und emotionsloser Funktionalität verbindet sich bei der ausgewählten Lehrkraft mit einer Schwerpunktverlagerung auf die Diagnostik der emotionalen Entwicklung der S:S und der Förderung ihrer sozialen Kompetenzen im RU. Diese leistungskritische Positionierung lässt sich in empirische Befunde einbetten, die eine grundlegende fachliche Skepsis gegenüber Leistungsbeurteilung und Notengebung analysieren. Religionslehrkräfte stimmen demnach weitgehend überein, dass „die Funktionen der Leistungsbeurteilung und vor allem der Notengebung in diesem Fach […] anders gelagert sind. Sie beteiligen sich nicht an der Selektionsfunktion der Notengebung und nehmen stärker ihre pädagogischen Funktionen in den Blick (Pirker/Juen, 2018, 196). Ob und inwiefern sich diese fachliche Skepsis gegenüber einer einseitigen Leistungsfokussierung und anthropologischer Implikationen einer Leistungsgesellschaft mit klassismusreflexiven Perspektiven auf Diagnostik verbindet, ist aufgrund des beschränkten Datenzugangs hier nicht abschießend zu beantworten und bedürfte einer erweiterten Erhebung.
Es wurde deutlich, dass eine klassismusreflexive Diagnostik nicht nur die individuellen Lernvoraussetzungen, sondern auch strukturelle Ungleichheitsverhältnisse (Bildungssystem, Sozialraum, institutionelle Normen) in den Blick nehmen muss. Dazu gehört die bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Normalitätsstandards und der Gefahr, soziale Unterschiede zu kulturalisieren oder zu moralisieren.
Anhand der Fallbeispiele zeigt sich, wie Lehrkräfte bei der Diagnose von Lernvoraussetzungen und Unterrichtssituationen von impliziten Normalitätsvorstellungen, spezifischen Differenzkategorien und teilweise biografischen Prägungen geleitet werden. Unter einer klassismuskritischen Perspektive – verstanden als die systematische Reflexion darüber, wie soziale Herkunft, ökonomisches Kapital, kulturelle Ressourcen und institutionelle Strukturen Bildungszugänge und -erfolge prägen zeigen sich deutliche Unterschiede in Sensibilität, Reflexionsgrad und analytischer Tiefe: L1 wendet zwar gruppenbezogen homogenisierende Zuschreibungen („Spätaussiedler“) an, die Verwendung erfolgt jedoch im Kontext der Wahrnehmung von Bildungsungleichheit, ökonomischer Ressourcen und möglicher Erklärungsansätze für das Nicht-Gelingen von Lernprozessen, wohingegen L2 Religion als polarisierenden Differenzmarker einsetzt, um eigene Werthaltungen („unsere christlichen Werte“) im Kontrast zu den Werthaltungen einer vermeintlich „anderen“ religiösen Gruppe („muslimische Schüler“) zu legitimieren. Hier lässt sich in Ansätzen Othering als „ordnendes, künstlich ‚Fremdheit‘ produzierendes Prinzip [… wahrnehmen, das] ‚fremden‘ Personen, Dingen und Formen keine Möglichkeit ein[räumt], jemals Teil der ‚eigenen‘ Ordnung zu werden. Othering denkt ‚Fremdheit‘ statisch, unveränderlich und niemals dem ‚Eigenen‘ gleichgestellt. ‚Fremdes‘ wird zum Objekt, zum bloßen Korrektiv, oft zur Bedrohung des Subjekts (Freuding, 2022, 49).“ Ob und inwiefern diese Fremdheitskonstruktion als unabdingbar statisch und unveränderlich gedeutet werden kann, lässt sich aus dem Erhebungskontext und den Interviewdaten nicht eindeutig rekonstruieren.
Auf der einen Seite werden zwar problematische Ausformungen von Religion in L1 und L2 (z. B. wörtliche Schriftauslegungen, theologische Konzepte von Sünde zur Abwertung von Homosexualität) explizit adressiert, was der religionspädagogischen Perspektive entspricht, „dass Pluralität bzw. Diversität nicht unkritisch als interessante und hierarchiefreie Vielfalt angenommen werden dürfen“ (Binici/Hiller, 2025, 22), und der Tendenz entgegenwirken kann, „problematische und extremistische Ausformungen von Religion zu marginalisieren“ (Pirner, 2023, 150). Auf der anderen Seite wird diese kritische Positionierung gegen die religiös begründete Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Sexualität bei L2 von der affektiv aufgeladenen Problemzuweisung an eine religiöse Gruppe homogenisierend überformt, sodass eine kritische und pluralitätsfähige Auseinandersetzung kaum möglich erscheint. An dieser Stelle setzt eine intersektional sensible Religionspädagogik an, die Religion als Differenzkategorie identifiziert und sie nicht isoliert, sondern intersektional in ihrer wechselseitigen Verwobenheit mit Differenzkategorien und -praktiken (z. B. Migration, Religion, Geschlecht und Kultur) analysiert und reflektiert (Binici/Hiller, 2025, 23–24). In L2 wird beispielsweise das Jungesein und Muslimischsein in das Problemfeld vermeintlicher Intoleranz gegenüber christlichen Traditionen eingelagert, aus der eine „homogene und rückständige Differenz“ (Binici/Hiller, 2025, 24) eines religiösen Kollektivs konstruiert wird.
Die intersektionale Perspektive macht deutlich, dass Klassismusreflexion im RU nicht ausreicht, wenn andere Diskriminierungsformen – etwa Rassismus oder Sexismus – nicht gleichzeitig mitgedacht werden. Intersektionalität bildet hierfür eine grundlegende Perspektivik, aus der Diskriminierungsformen und Differenzkategorien nicht additiv nebeneinander analysiert werden, sondern „das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Kategorien bzw. sozialen Ungleichheiten“ (Walgenbach, 2014, 54) fokussiert wird. Übertragen auf Prozesse diagnostischer Wahrnehmung und Interpretation bedarf es daher eines intersektional sensiblen Habitus, der die eigene Verwobenheit in polarisierende Differenzpraktiken reflektiert und entgegen einer Verengung auf Religion als isolierte Differenzmarkierung im RU die individuelle Wahrnehmung schärft für die Ambivalenzen, Spannungsfelder und Brüche der selbst gezogenen Markierungen. Diese Skepsis gegenüber selbst gezogenen Differenzlinien und ordnenden Reduktionen wird von Janosch Freuding (2022, 383-385) als eine zentrale Reflexionskategorie für den Umgang mit Fremdheit und Othering in interreligiöser Bildung verstanden. Aus anthropologischer Perspektive ist diese Reflexionsperspektive getragen von der Einsicht des nie vollständigen Aufgehens eines Menschen in konstruierten Ordnungen. Vielmehr bewegen sie „sich durch eine Mannigfaltigkeit von Ordnungen hindurch, verändern diese und werden durch sie bestimmt. Sie gehören immer mehreren Ordnungen gleichzeitig an, die sich teils widersprechen (Freuding, 2022, 385).“
Eine zentrale Limitation der Studie ergibt sich aus der Dekontextualisierung der erhobenen Daten: Zwar beleuchtet der klassismusreflexive Zugang die Vielschichtigkeit von diagnostischen Prozessen der Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung von S:S-merkmalen und ihren Kompetenzen und ist hierdurch mit dem Themenfeld der Diagnosekompetenz von Lehrkräften verbunden, allerdings stellt die Klassismusreflexivität einen erweiterten Forschungszugang dar, der mit dem Prozess der Datenerhebung nicht originär verbunden war. Daher wurden für die Analyse weitere Informationen zu den Primärdaten (z. B. durch Postskripte zu den Interviews) sowie die Erhebungsinstrumente hinzugezogen, um den Kontext der Erhebungssituation bei der Analyse zu berücksichtigen. Da es sich bei den Daten um Äußerungen handelt, die in einem kommunikativen Prozess erhoben wurden, bedarf es einer besonderen Sensibilität für fallspezifische Analysen, die sich aus der Nicht-Thematisierung klassismusrelevanter Aspekte durch die Lehrkräfte ergeben. Die Weite des Diagnostik-Begriffes, der für viele Religionslehrkräfte – da die Schulung diagnostischer Kompetenzen bisher domänenspezifisch kaum in die Religionslehrer:innenbildung integriert ist – deutungsoffen und nicht klar konzeptuell umrissen erscheint, könnte diese Nicht-Thematisierung klassismusrelevanter Aspekte ansatzweise erklären. Auch wäre das Erhebungsdesign selbst in Hinblick auf das Verhältnis von Lehrkräften zu Forschenden nochmals klassismussensibel zu reflektieren.
Umgekehrt muss bei der Analyse von L3, bei der Leistung und religiöse Sozialisation als Narrativ herausgestellt wurde, das den Zusammenhang von Leistung und struktureller Diskriminierung verschleiert und als individuelles Motivationsproblem vereinseitigend darstellt, einschränkend das vorliegende Forschungsdesign berücksichtigt werden. Hierin bildete die „Motivation“ der S:S ein vorgegebenes Kriterium im Rahmen des Interviewleitfadens, auf das die Lehrkräfte reagierten, sodass ein entsprechendes Priming durch den Erhebungskontext gegeben war. In den vorliegenden Daten ist kein typisierendes Muster in Bezug auf den Zusammenhang von Leistung und Klassismusreflexivität festzustellen, da eine grundsätzliche Skepsis von Religionslehrkräften an der Leistungsgesellschaft und ihren anthropologischen Prämissen eines funktionalen Menschenbildes angenommen wird. Hierin kann ein Potenzial für die mehrdimensionale Reflexion des Leistungsbegriffes im Kontext von Bildungsungleichheit und Benachteiligung gesehen werden, das es weiterführend zu erforschen gilt.
Binici, Erkan/Hiller, Simone (2025), Rassismuskritik intersektional gedacht. Konturen einer diskriminierungskritischen Religionspädagogik, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 33 (2025) 1, 13–33, https://doi.org/10.25364/10.33:2025.1.2 [Zugriff: 28.09.2025].
Brandstetter, Bettina (2023), Die Migrationsandere und ihre Religion. Eine diskurssensible Erschließung kolonialer Differenzkonstruktionen, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 31 (2023) 1, 87–105, https://doi.org/10.25364/10.31:2023.1.6 [Zugriff: 28.09.2025].
Freuding, Janosch (2022), Fremdheitserfahrung und Othering. Ordnungen des „Eigenen“ und „Fremden“ in interreligiöser Bildung (Religionswissenschaft 29), Bielefeld.
Gamper, Markus/Kupfer, Annett (2023), Klassismus (Einsichten. Themen der Soziologie, Band 10), Bielefeld u.a.
Grümme, Bernhard (2021), Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung, Freiburg u.a.
Hock, Johanna/Käbisch, David (2023), Religiöse Facetten des kulturellen Kapitals. Religiöse Bildung als Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit im Spiegel der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, in: Theo-Web, Zeitschrift für Religionspädagogik 22 (2023) 2, 310-330, https://doi.org/10.23770/tw03 [Zugriff: 28.09.2025].
Knauth, Thorsten (2020), Art. Intersektionalität, in: WiReLex, 1–13, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100233/ [PDF vom 31.01.2020] [Zugriff: 28.09.2025].
Kuckartz, Udo/Rädiker, Stefan (2024), Ǫualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Umsetzung mit Software und künstlicher Intelligenz, 6., überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim/Basel.
Lessenich, Stephan (2012), Die Neuerfindung des Sozialen: Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld.
Leuders, Timo/Dörfler, Tobias/Leuders, Juliane/Philipp, Kathleen (2018), Diagnostic Competence of Mathematics Teachers: Unpacking a Complex Construct, in: Leuders, Timo/Philipp, Kathleen/Leuders, Juliane (Hg.): Diagnostic Competence of Mathematics Teachers. Unpacking a Complex Construct in Teacher Education and Teacher Practice (Mathematics Teacher Education 11), Cham, 3–31.
Mecheril, Paul/ Castro Varela, Maira do Mar/Dirim, İnci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (2010), Migrationspädagogik. Weinheim/Basel.
Pirker, Viera/Juen, Maria (2018), Religion – (k)ein Fach wie jedes andere. Spannungsfelder und Perspektiven in der kompetenzorientierten Leistungsbeurteilung (Religionspädagogik innovativ 26), Stuttgart.
Pirner, Manfred (2023), Digitalitätsethische und diversitätssensible Bildung im Horizont einer menschenrechtsorientierten Religionspädagogik, in: Nord, Ilona/Petzke, Judith (Hg.), Religions-Didaktik. Diversitätsorientier und digital. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin, 148–162.
Rabenstein, Kerstin/Reh, Sabine/Ricken, Norbert/Idel, Till-Sebastian (2013), Ethnographie pädagogischer Differenzordnungen. Methodologische Probleme einer ethnographischen Erforschung der sozial selektiven Herstellung von Schulerfolg im Unterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik, 59 (2013) 5, 668–690.
Riegel, Ulrich/Zimmermann, Mirjam/Hohenschue, Oliver (2023), Religiöse Identifikation im Schnittpunkt von Religionszugehörigkeit, Geschlecht und Migrationsstatus, in: Knauth, Thorsten/Reindl, Silke/Jochimsen, Maren A. (Hg.), Religiöse Bildung an den Rändern der Vielfalt. Soziale Benachteiligung, Religion, Geschlecht, Berlin, 69-83.
Spivak, Gayatri C. (1987), Subaltern Studies: Deconstructing Historiography, in: Spivak, Gayatri C., In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York u.a., 197-221.
Unser, Alexander (2019), Social inequality and interreligious learning: An empirical analysis of students’ agency to cope with interreligious learning tasks, Münster/New York.
Walgenbach, Katharina (2014), Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen/Toronto.
Zimmermann, Mirjam (2015), Art. Leistungsmessung, Leistungsbewertung, in: WiReLex, 1-14, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100028/ [PDF vom 23.04.2020] [Zugriff: 28.09.2025].
Claudia Gärtner, Professorin für Praktische Theologie an der TU Dortmund.
Annalena Sieveke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der TU Dortmund.
Theo-Web Nr. 2/2025, ISSN 1863-0502 Open Access, Licence: CC BY 4.0 International © 2025 Schwarz/Meyer