„Zachäus, armer reicher Mann“? Klassismusreflexive Exegese zwischen sozialer Realität, biblischen Figuren und gegenwärtiger Rezeption


Aliyah El Mansy


Zusammenfassung

Die Botschaft der Bibel nimmt die Marginalisierten und Benachteiligten in den Blick. Damit scheint sie klassismuskritisch zu sein. Der Beitrag zeigt, dass dennoch eine klassismusreflexive Exegese notwendig ist. Zum einen versteckt sich in manchen Texten impliziter Klassismus und zum anderen tragen heutige Leser:innen eigenen internalisierten Klassismus in die Auslegung ein. Anhand der Perikope über den Zöllner Zachäus zeigt der Beitrag, wie mithilfe der antiken Sozialgeschichte und des literarischen Diskurses Bibeltexte klassismusreflexiv analysiert werden können und sich so neue bibeldidaktische Perspektiven ergeben.


Schlagwörter: Zöllner, Zachäus, Lukasevangelium, Klassismus, Exegese, Bibeldidaktik


“Zacchaeus, the Poor Rich Man”? Towards a Classism-Reflective Exegesis


Abstract

The message of the Bible focuses on the marginalized and disadvantaged. In this sense, it appears to be critical of classism. However, this article shows that a classism-reflective exegesis is still necessary. On the one hand, some texts contain implicit classism, and on the other hand, readers themselves bring their own internalized classism into interpretation. Using the pericope of the tax collector Zacchaeus, the article demonstrates how, through ancient social history and literary discourse, biblical texts can be analyzed in a classism-reflective way – and thus new perspectives for biblical didactics emerge.


Keywords: tax collector, Zacchaeus, gospel of Luke, classism, exegesis, biblical pedagogy

Einleitung

„Die Fremde, die Waise und die Witwe, die an deinem Ort wohnen … sollen sich satt essen“ (Dtn 14,29). Solche Bibelverse sind vielen geläufig. Die Botschaft der Bibel nimmt die Marginalisierten in den Blick. Sie kritisiert die Reichen. „Ja, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes“ (Lk 18,25). „Du kannst nicht Gott und dem Mammon dienen“ (Lk 16,13). Sie fordert Besitzverzicht und Umverteilung an die Armen (Lk 18,22). Gerechte Verhältnisse sollen hergestellt werden. Dafür steht die Botschaft vom Reich Gottes: eine warnende Stimme gegen Reichtum. Eine klassismusreflexive Exegese braucht es nicht, weil es keinen Klassismus in diesen Texten geben kann? Höchstens in der Auslegung und Rezeption, so dass eine klassismusreflexive Hermeneutik ausreicht. Die Bibel ist Teil der Lösung und nicht des Problems. So oder so ähnlich könnte für das klassismuskritische Potential in der Bibel argumentiert werden.

Ich möchte die Allgemeingültigkeit einer solchen Annahme auf den Prüfstand stellen. Dazu werde ich Zachäus als eine der Figuren, die als marginalisierte Randfiguren oder Entrechtete rezipiert werden, die aber selbstbestimmt agieren und damit aus dem Status des stummen Fürsorgeobjekts ausbrechen, genauer untersuchen.

  1. Klassismus als Fragehorizont der Exegese

    Anachronistische Begriffe bergen in den historischen Wissenschaften immer eine Chance und eine Gefahr. Historisch gesehen sind sie oft nicht akkurat und projizieren moderne Gegebenheiten in die Antike. Hermeneutisch erfüllen sie eine wichtige Funktion, indem zum einen nach ähnlichen Phänomenen und Vorläufern gesucht werden kann und zum anderen die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte berücksichtigt wird. Auch ihr Einfluss auf die Analyse der historischen Gegebenheiten und Befunde, die immer auch Interpretation durch das positionierte Subjekt des/der Exeget:in ist, kann aufschlussreich sein.

    Klassismus ist ein solcher Begriff. Für die Gegenwart wird die Definition nach Gampfer und Kupfer breit rezipiert: „Klassismus bezeichnet strukturelle, institutionelle, kulturelle oder auch individuelle Praktiken und Einstellungen, die Menschen aus unteren sozioökonomischen Klassen bzw. Klassenmilieus stigmatisieren und/oder diskriminieren und soziale, kulturelle oder ökonomische Hegemonien produzieren oder reproduzieren.“ (Gampfer/Kuper, 2023, 129) Wie lässt sich diese Definition der Gegenwart für die Antike operationalisieren? Die antiken Gesellschaften im Römischen Reich kennen soziale und ökonomische Hierarchien und Ungleichheiten und die damit verbundenen Privilegien und Benachteiligungen (Zugang zu Ressourcen wie Bildung, Ämtern, Land), bis hin zur Verweigerung von Rechten aufgrund des Status (z.B. Versklavte, Menschen ohne römisches Bürgerrecht). Ein Unterschied besteht darin, dass die Mehrheit der antiken Gesellschaft einer ökonomischen Schicht zuzuordnen ist, die um das Existenzminium herum und darunter lebte (Longenecker, 2010, 36-59). Dieses System war nur in Ausnahmefällen durchlässig, z.B. konnten Personen ihren niedrigen sozio-ökonomischen Status im Patronatssystem verbessern. So konnte ein Sklave, der als Erzieher für eine reiche Familie tätig war, im Status höher stehen als ein freigeborener Handwerker. Sichtbar wird dies z.B. auch bei Sklaven, die im Zollwesen arbeiteten und die Inschriften hinterließen, die dem cursus honorum der Elite nachempfunden sind (van Nijf, 2008, 279-311).

    Das Identifizieren von klassistischen Anklängen in biblischen Texten wird dadurch erschwert, dass es sich um Literatur handelt, deren Verfassende nicht eindeutig einer spezifischen sozio-ökonomischen Schicht zugeordnet werden können. Gleichzeitig berichten sie über die Wirklichkeit sozio-ökonomisch niedrig gestellter Personen in der theologischen Absicht, sich gerade diesen Menschen, die diskriminiert und ungleich behandelt werden, zuzuwenden.

    Auch wenn der Begriff Klassismus nicht benutzt wird, gibt es exegetische Ansätze, die sich mit den dazugehörigen Themen auseinandersetzen, wie die befreiungstheologischen, feministischen, postkolonialen, queeren Exegesen, die sogenannten minority exegesis sowie die intersektionalen Exegesen. Dort finden sich Perspektiven und Ansätze, die sozio-ökonomische Hierarchien, Ungleichheiten und Diskriminierungen dekonstruieren.

    Das bedeutet: Eine klassismusreflexive Exegese untersucht Texte in ihrem historischen Kontext im Hinblick auf sozio-ökonomische Hierarchien und Ungleichheiten. Sie ist von einer klassismusbewussten Hermeneutik geprägt, die den eigenen sozio-ökonomischen Standort und den anderer Rezeptionen kritisch hinterfragt.

  2. Klassismusreflexive Exegese

    „Vom Bösewicht zum Mitmenschen“ (Peters, 2023), „Ist das gerecht? – Jesus begegnet Zachäus“ (Hochartz, 2024): Vielleicht klingen einige dieser Zitate vertraut. Anhand der Geschichte über Zachäus werden religionspädagogisch existentielle Grunderfahrungen von Exklusion und Inklusion oder Gerechtigkeit thematisiert; meistens im Elementarbereich, sei es in der Grundschule oder im Kindergottesdienst. Zachäus wird Kindern als Identifikationsfigur präsentiert. In Liedern lässt sich eine moralische Botschaft über den „armen, reichen Mann“, den „niemand mag“ und der „keine Freunde hat“ an Kinder übermitteln (so im Evangelischen Gesangbuch, 603). In Kinderbibeln und anderen Materialien wird die Wandlung des Außenseiters in Szene gesetzt. Leider werden im Bild- und Textmaterial immer noch antisemitische Stereotypen transportiert (El Mansy, 2025). Es gibt aber auch gutes bibeldidaktisches Material, das versucht, die Komplexität näher zu bringen (Grünschläger-Brennecke/Röse/Schumacher, 2019).1 Schauen wir uns zunächst den Text an:

    Lk 19,1-10

    „1 Und er ging hinein und er ging durch Jericho hindurch. 2 Und siehe, ein Mann, der mit Namen Zachäus genannt wurde, und er war der Oberzöllner (ρχιτελώνης/architelōnēs) und er war reich. 3. Und er versuchte, Jesus zu sehen und er konnte nicht wegen der Menge, weil er von kleiner Statur war. 4. Und er lief voraus in die Nähe und stieg hinauf auf einen Maulbeerfeigenbaum, damit er ihn sah, weil er dort vorbeikommen sollte. 5 Und als er zu dem Ort kam, blickte Jesus hoch und sagte zu ihm: „Zachäus, beeil dich, komm herunter, denn heute ist es nötig, dass ich mich in deinem Haus aufhalte.“ 6 Und sofort stieg er hinab und empfing ihn mit Freude. Und alle, die es sahen, murrten, indem sie sagten: „Bei einem sündigen Mann ist er hineingegangen, um einzukehren.“ 8 Zachäus aber stellte sich hin vor den Herrn und sagte: „Siehe, die Hälfte meines Vermögens, Herr, gebe ich den Armen, und wenn ich irgendjemanden erpresst (συκοφαντέω/sykofanteo) habe, gebe ich vierfach zurück.“ 9 Jesus aber sagte zu ihm: „In diesem Haus ist heute Rettung geschehen, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und zu retten das Verlorene.“

    Aus dem Text erfahren wir verschiedene Informationen über Zachäus, die unterschiedlichen Stimmen in den Mund gelegt werden. Die Erzählstimme informiert uns darüber, dass Zachäus in Jericho lebt und damit aus dem städtischen Milieu stammt. Er ist ein Mann mit einem jüdischen Namen, seine Tätigkeit ist Oberzöllner. Er ist reich, klein und will Jesus sehen. Aus den Bemerkungen Jesu können wir ableiten, dass Zachäus ein Haus besitzt. Außerdem bezeichnet er ihn als Sohn Abrahams und Verlorenes, das gesucht und gerettet werden muss. Die Leute beschreiben Zachäus als sündigen Mann. Zachäus selbst gibt zu erkennen, dass er es für angemessen hält, den Armen die Hälfte seines Vermögens zu geben, und dass er denen, die er erpresst hat, das Vierfache zurückerstatten will. Es ist erkennbar, dass Zachäus’ Beschreibung entlang von unterschiedlichen Kategorien vorgenommen wird: Gender, ethno-religiöse Zugehörigkeit, ökonomische Situation, Beruf und Status, räumliche Lokalisierung sowie kultisch/religiöse/moralische Einordnung, je nachdem, wie das „sündig“ verstanden wird. Hinter all diesen Kategorien verbergen sich potentielle Hierarchien und Ungleichheiten. Mit der Perspektive auf Klassismus interessiert uns jedoch vor allem, welche Anzeichen darauf hinweisen, dass hier explizit oder implizit jemand aufgrund der sozialen Herkunft und/oder der sozialen und ökonomischen Position diskriminiert oder abgewertet wird. Zachäus wird von einer nicht näher bestimmten Gruppe als sündig betrachtet und daher abgewertet. Man kann spekulieren, dass die Kritik an Jesus, bei Zachäus einzukehren, darauf hinweist, dass andere sich lieber fernhalten und Zachäus sozial isoliert wird. Das liegt nicht an seiner sozialen Herkunft, sondern an seiner sozialen und ökonomischen Position in der Gesellschaft. Zachäus wird als unehrlich und betrügerisch abgewertet, wobei ihm dies selbst in den Mund gelegt wird - allerdings gerade nicht aufgrund eines niedrigen sozio-ökonomischen Standes. Kann hier also nicht von Klassismus gesprochen werden? So scheint es auf den ersten Blick. Ich möchte mit Hilfe der Sozialgeschichte und der Analyse des literarischen Diskurses zeigen, warum hier implizit Klassismus in die Beschreibung und Bewertung von Zachäus einfließt.

    Um dem auf die Spur zu kommen, müssen wir uns mit den Leerstellen im Text beschäftigen: Wodurch ist Zachäus reich geworden? Wie reich im Verhältnis zu den anderen und den Armen? Welche soziale Stellung hatte ein Abgabeneinnehmer? Um klassismusreflexiv zu analysieren, inwiefern soziale Hierarchien und ökonomische Ungleichheiten explizit und implizit in diesem Text eine Rolle spielen und an welchen Textelementen dies sichtbar wird, ist sozialgeschichtliches Hintergrundwissen nötig. Damit wir erkennen und unterscheiden können, was an der Figur Zachäus historisch durchscheint und was vom Verfasser literarisch intendiert ist, brauchen wir mehr Informationen über Zöllner in der Antike.

    1. Abgabenpersonal in der antiken Gesellschaft

      Zachäus wird in dem Text als ρχιτελώνης/architelōnēs beschrieben. Τελώνης/Telōnēs ist der gängige Begriff, der im Neuen Testament für Abgabenpersonal gebraucht wird. Es handelt sich dabei um einen generischen Begriff. Die Bezeichnungen im Griechischen und Lateinischen sind vielfältig und ausdifferenziert für Zollpersonal und Personen, die Steuern und Abgaben einnehmen (El Mansy, 2024a, 33-34). Τελώνης/Telōnēs kann sowohl eine Person bezeichnen, die Zölle einnimmt, als auch Abgaben jeglicher Art. Von dem Begriff lässt sich nicht ableiten, ob Zachäus im Zollwesen oder im Abgabenwesen tätig war. Da Zachäus lediglich als ρχιτελώνης/architelōnēs beschrieben wird, ist es schwer, überhaupt zu wissen, was genau seine Aufgaben und Tätigkeitsfelder waren. Der Begriff findet sich nur bei Lukas und kommt ansonsten nicht in der antiken Literatur oder dokumentarischen Ǫuellen vor. Er scheint also entweder eine lukanische Erfindung zu sein oder eine Übersetzung des Hebräischen בר סכומ/mokhes rav. Klar ist lediglich, dass Lukas damit ausdrücken will, dass Zachäus eine leitende Funktion einnimmt. Daher werden wir sowohl auf das Zoll- als auch auf das Abgabenpersonal einen Blick werfen.

      Grundsätzlich kann das Abgaben- und Zollsystem in der Antike nur rudimentär rekonstruiert werden. Es gab kein einheitliches System, sondern die Römer übernahmen die vorhandenen Systeme in den Provinzen. Im Westen des Römischen Reiches dominierten Abgaben- und Pachtgesellschaften, in Kleinasien bis nach Ägypten Kleinpächter und Liturgen. Ich werde später darauf eingehen, was das bedeutet. Neben literarischen Texten, die ich erst im Teil über den Diskurs zum Abgabenpersonal betrachten werde, gibt es aus dem Westen des Römischen Reiches, Griechenland und Kleinasien vor allem Zeugnisse in Form von Inschriften: darunter Zolledikte, Stiftungen, Grab- und Votivinschriften. Aus dem Gebiet der Provinz Syrien stammt aus hellenistischer Zeit eine Abgabenliste und aus römischer Zeit aus Apamea die Grabinschrift des Präfekten Ǫ. A. Secundus, die auf einen Zensus um 6 n. Chr. hinweist, sowie ein Zolledikt aus Palmyra und einen Hinweis auf einen jüdischen Abgabeneinnehmer.

      Die meisten Zeugnisse stammen aus Ägypten – Edikte, Steuerlisten, Steuer- und Zollquittungen, Petitionen und Briefe. Auch wenn man die Verhältnisse aus einer Provinz nicht undifferenziert auf die andere übertragen kann, so lassen sich viele wichtige Eindrücke aus dem Material sammeln.

    2. Betrug an einer Zollstation (P.Amh. 2,77)

      Wir betrachten zunächst ein Beschwerdeschreiben an die administrative Leitung, aus dem Jahr 139 n. Chr. (P.Amh. 2,77). Es geht um Betrug an einer Zollstation in Soknopaiou Nesous, einem Ort am nördlichen Ufer des Sees Moeris im Fayum in Ägypten. Für die Zollstationen war Polydeukes zuständig. Er leitete die Zollstation schon vier Jahre über die übliche Zeit hinaus. Um Leiter einer Zollstation zu sein, musste Polydeukes mit seinem eigenen Vermögen haften. Polydeukes hatte einen Assistenten namens Harpagathes. Er führte die Listen, stellte vielleicht Zollquittungen aus oder übernahm andere Aufgaben. Für die Sicherheit war Pabus zuständig. Dieser war Priester. Wahrscheinlich gehörte er zu den Sobek-Priestern, von denen es im Ort viele gab: über 100 bei nur 1.000 Einwohner:innen. Die meisten Familien standen also in Beziehung zu dem Tempel der Fruchtbarkeitsgottheit. Das Priestertum war erblich, daher mussten ein oder beide Elternteile von Pabus auch das Priesteramt ausüben.

      Neben seinem Dienst im Tempel war Pabus als arabischer Bogenschütze zur Sicherung der Zollstation tätig. Häufig übernahmen die Bogenschützen auch Geldtransporte zur Bank. Pabus konnte also das Kommen und Gehen an der Station beobachten - und anscheinend auch, dass Harpagathes Zolleinträge fälschte. Pabus schaffte es, eine Kopie einer solchen gefälschten Liste anzufertigen. Diese schickte er mit einem Anklageschreiben an den zuständigen Offiziellen. Allerdings fand Polydeukes das heraus. Daraufhin wurde Pabus von ihm und weiteren Männern angegriffen und zusammengeschlagen. Das reichte aber noch nicht. Polydeukes hetzte Pabus jemanden aus dem Sicherheitsapparat auf den Hals, der ihn zum Abrechnungshof brachte und dort auspeitschen ließ, damit er die Liste aushändigte. Diese Vorkommnisse gelangten anschließend zu den höheren Offiziellen, doch Pabus erwähnt nicht, ob etwas dagegen unternommen wurde. Seine Petition endet mit der Bitte, dass in diesem Fall Recht gesprochen und die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

      Dieser Vorfall zeigt anschaulich die administrative Struktur, in die jede Zollstation eingebettet war, sowie die verschiedensten Personen und ihre Zuständigkeiten. An einer Zollstation arbeiteten verschiedene Menschen in unterschiedlichen Funktionen. Eine Person war hauptverantwortlich zuständig für die Zollstation. Der Zollstationsleiter war gut vernetzt in die Administration und den dazugehörigen Sicherheitsapparat. Darüber hinaus wird sichtbar, dass Betrug unter Umständen keine Tat von Einzeltätern war bzw. sein konnte, weil dieser auf verschiedenen Ebenen gedeckt werden musste. Zu guter Letzt zeigt dieser Vorfall, dass man nicht von vornherein annehmen sollte, dass alle Angestellten einer Zollstation Betrug guthießen, und manche sogar mutig genug waren, diesen anzuzeigen.

    3. Der Abgabeneinnehmer Nemesion (Nemesion Archiv)

      Wir bleiben im Fayum, betrachten nun aber die Stadt Philadelphia. Hier ist uns das Archiv des Abgabeneinnehmers Nemesion zum Teil erhalten geblieben. Zum Archiv gehören Abgabenlisten, andere geschäftliche und private Dokumente (30-60 n. Chr.; El Mansy, 2024a, 159-181).

      Wir erfahren aus dem Archiv, dass Nemesion über 14 Jahre hinweg für die Kopfsteuereinnahme zuständig war (ca. 44-58 n.Chr.). Es handelt sich um eine Liturgie, also eine Aufgabe, die ihm staatlicherseits übertragen wurde. Dies war nur bei Personen möglich, die genug Vermögen hatten, um für mögliche fehlende Abgaben selbst aufzukommen. Einer Liturgie konnte man sich nicht verweigern, sie war verpflichtend.

      Nemesion hatte Angestellte, die für ihn kleinere Orte aufsuchten, denn sein Abgabengebiet war groß. Diese bezahlte er fürs Abgabeneinnehmen. Manchmal arbeitete er mit Sicherheitskräften zusammen. Auch er war gut vernetzt in die Administration – er bat andere um Amtshilfe und wurde selbst z.B. vom Dorfschreiber um Gefallen gebeten. Nemesion war verheiratet. Seine Frau Thermutis konnte schreiben und gemeinsam hatten sie ein oder zwei Söhne und zwei Töchter.

      Durch seine Tätigkeit als Abgabeneinnehmer war Nemesion in Kontakt mit vielen Menschen. In den Abgabenlisten werden zum Teil ihre Berufe genannt: Schweinehirten, Esels-treiber, Einbalsamierer, Kupferschmiede, Schäfer, Kuhhirten, Weber, Flötenspieler, Barbiere, Bauern, Gemüseverkäufer, Ölproduzenten, Priester und Obsthändler. Hier spiegelt sich die Zusammensetzung der Bevölkerung in ländlichen Regionen.

      Nemesion selbst arbeitete auch mit anderen Abgabeneinnehmern zusammen. So bat er um Amtshilfe, wenn Personen weiter weg verzogen waren. In einer Petition schließen sich die Abgabeneinnehmer zusammen und bitten um Erlass der geforderten Abgabensumme, die sie nicht einnehmen konnten, weil zu viele Personen verstorben seien und andere Steuerflucht begangen hätten. Sie drohten sogar, selbst unterzutauchen. Der Staat hatte Schwierigkeiten, geeignete Personen zu finden, um Abgaben einzunehmen, weil der Dienst mit einem finanziellen Risiko verbunden war. Die Abgabeneinnehmer wussten also, dass sie ein Druckmittel in der Hand hatten, obwohl sie zu dem Dienst verpflichtet wurden. In einem anderen Schreiben beschwert sich Nemesion über seinen Kollegen Horion, der das Abgabeneinnehmen in dem benachbarten Bezirk vernachlässigte. Nemesion fürchtete, dafür in Mithaft genommen zu werden. In einem weiteren Beschwerdeschreiben wird von Schreibern berichtet, die monatlich Geld vom Abgabenpersonal erpressten.

      Das Abgabeneinnehmen war allerdings nicht Nemesions Haupttätigkeit. Er war in der Landwirtschaft und Viehzucht tätig. Mit seinem Geschäftspartner Lucius, einem Centurio, züchtete er Schafe und hatte Schäfer angestellt. In einem Privatbrief bittet Nemesion Servilius um die Zusendung von Papyrusrollen, einem Block Silicium, italienischem Wein, einem zweikarätigen Ring und Süßigkeiten für die Kinder. Nemesions Frau Thermutis scheint ins Geschäft eingebunden zu sein. Als ihr Mann einmal nicht zu Hause war, schreibt sie ihm einen Brief. Darin bespricht sie mit Nemesion Gehälter für Schäfer und den Erwerb von Schaufeln.

      Nemesion ist ein Beispiel eines gut vernetzten Abgabeneinnehmers, der in die lokale Gesellschaft eingebettet ist. Er erscheint nicht als Außenseiter, sondern als aktiv handelnde Person, die sich für die eigenen Interessen, aber auch für die anderer einsetzt. Seine Position im Abgabenwesen macht ihn zu einer Person mit sozialem Kapital. In den Beschwerden und Privatbriefen werden die kleinen und größeren Sorgen greifbar, mit denen er durch das Abgabeneinnehmen konfrontiert war. Auch hier wird wieder erkennbar, dass Abgabeneinnehmen nicht die Angelegenheit einzelner Personen war. Es gab verschiedene Abhängigkeiten, Kooperationen und selbst Erpressung durch andere Amtspersonen. Nemesion hat durchaus eine hohe administrative Stellung, reiht sich aber dennoch im Ortsgefüge neben und unter andere Administratoren ein.

    4. Erpressung durch Abgabenpersonal

      Wir wissen nicht, ob Nemesion beim Abgabeneinzug betrogen hat. Doch es gibt zur Genüge Dokumente, die Erpressung, Betrug und Gewalt durch Abgabenpersonal festhalten. Dabei handelt es sich um offizielle Beschwerden wie die von Webern über Abgabeneinnehmer, die zu viel Geld verlangt haben (z.B. P.Oxy. 73,4953). Häufig werden diese Beschwerden erst dann eingereicht, wenn der Amtsturnus der Person vorbei ist. Belegt sind auch komplexere Vorfälle, die nicht immer klar rekonstruierbar sind. Der Bauer Marsisuchos beschwert sich über einen Abgabeneinnehmer, der mit einer bewaffneten Person gekommen ist, ihn festgenommen und ins Gefängnis gesteckt hat (P.Col. 8,209). Ein ganzes Dorf in Ägypten klagt darüber, dass der Abgabeneinnehmer Apollos mit einem Soldaten aus dem Haus des Fährmanns Patuontes, auf den die Leute angewiesen sind, um zu ihren Feldern zu kommen, zwei neue Gewänder entwendet hat, weil dieser angeblich seine Abgaben nicht bezahlt habe (BGU 4,1188). Im 2. Jh. n.Chr. beschwert sich Julia Herais, die aus einer römischen Familie in Karanis stammte, über den Abgabeneinnehmer Herakleides (SB 16,12678). Sie beschreibt Herakleides so: Er würde sie mit Gewalt behandeln und illegal Geld fordern, er sei hartnäckig bzw. stur und unbarmherzig und würde mit Gewalt agieren, so dass sie vor möglichen gewalttätigen Akten geschützt werden müsse. In solchen Petitionen finden sich immer wieder Hinweise auf das Konfiszieren von Wertgegenständen und die Ausübung von Gewalt durch Abgabenpersonal.

      Aus sozialgeschichtlicher Perspektive waren τελναι/telōnai also Personen, die in der lokalen Gesellschaft und in der Administration gut vernetzt waren. Sie gehörten verschiedenen sozio-ökonomischen Schichten der Gesellschaft an. Manche von ihnen waren wohlhabend, andere verdienten nicht mehr, als zur Existenzsicherung reichte. Unten in der Hierarchie der Abgaben- und Zolleinnahme lebten die Beschäftigten in prekären ökonomischen Umständen. Je größer die Verantwortung, desto besser die sozio-ökonomische Position. Etliche hatten zusätzliche Einkommen aus anderen Tätigkeiten. Diese sozio-ökonomische Positionierung bildete einen Faktor, der den sozialen Status in der Gesellschaft beeinflusste. So konnte ein Abgabeneinnehmer wie Nemesion im lokalen Dorfgefüge durch seinen Wohlstand, seine gute Vernetzung und seine zahlreichen Kontakten einen hohen sozialen Status einnehmen. Aus römischer Oberschichtensicht blieb er allerdings ein Provinzialer ohne römisches Bürgerrecht.

      Auch viele der pauschalen Zuschreibungen sind sozialgeschichtlich nicht haltbar. Einige Abgabeneinehmende betrogen bei ihrer Amtsausübung, andere waren ehrlich. Manche wurden selbst Opfer von Betrug und Gewalt. Sie setzten ihre guten Verbindungen und Fähigkeiten für oder gegen andere Personen ein. Manchmal arbeiteten sie freiwillig im Abgabenwesen, manchmal unfreiwillig. Ihre Tätigkeit sagt nicht zwingend etwas über ihre Haltung gegenüber der römischen Besatzungsmacht aus, so dass es voreilig wäre, sie als Kollaborateure zu bezeichnen.

      Kontextualisieren wir Zachäus in diesen sozialgeschichtlichen Rahmen: Wir wissen nicht, welche Abgaben oder Zölle er einnahm, ob er diese gepachtet hatte oder als Liturgie den Auftrag dazu erhielt. Klar ist allerdings, dass er eine gehobene Funktion innehatte. Daraus lässt sich ableiten, dass andere Personen für ihn arbeiten bzw. dass er die Aufsicht über sie hatte. Er war eingebunden in die Administration in Jericho und hatte sicherlich Kontakte zu anderen in der Verwaltung. Es ist zu vermuten, dass er zusätzlich Einkommen aus weiterer Tätigkeit bezog. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte er eine Familie und war privat wie geschäftlich gut vernetzt in Jericho. Sowohl aufgrund seines Vermögens als auch seiner Position in der Administration müsste Zachäus theoretisch einen gehobenen sozio-ökonomischen Status in der Gesellschaft gehabt haben.

      Bis hierhin haben wir sozio-ökonomische Hierarchien und Ungleichheiten auf zwei Ebenen untersucht: textanalytisch auf der Ebene der Erzählung und historisch auf der Ebene der Sozialgeschichte. Dabei sind nun verschiedene Aspekte sichtbar geworden: Die Perikope beschreibt den τελώνης/telōnēs Zachäus explizit und implizit auf eine spezifische Art und Weise – als reich, betrügerisch und sozial isoliert. Damit greift sie teilweise auf soziale Realitäten zurück, wie zuvor gezeigt wurde. Gleichzeitig ist sie kein Abbild einer historischen Wirklichkeit. Vieles wird gar nicht thematisiert bzw. spezifisch akzentuiert. Lukas hatte kein Interesse, ein historisch korrektes Bild eines Abgabeneinnehmers zu präsentieren. Wir müssen uns also mit der literarischen Absicht auseinandersetzen. Um uns dieser Fragestellung anzunähern, ist es notwendig, den antiken Diskurs über Abgabenpersonal sowie dessen Darstellung im Lukasevangelium in den Blick zu nehmen.

    5. Der antike Diskurs über Abgabenpersonal

      Schon in der Antike begegnet in moral-philosophischen und historischen Werken ein negatives Stereotyp über Zöllner und anderes Abgabenpersonal. Die Entstehung dieses Stereotyps hat verschiedene Ursachen. Stereotype lassen sich damals wie heute als Ausdruck sozialer Konflikte verstehen. In der Antike zeigt sich beim Abgaben- und Zolleinzug die Auseinandersetzung um Macht und ökonomische Ressourcen zwischen römischer Besatzungsmacht und provinzialen Besetzten sowie zwischen den lokalen Interessensgruppen. Die römische Besatzungsmacht nutzte die lokalen Hierarchien und Machtkonflikte zu ihren Gunsten. Im Abgabenpersonal und den Zöllnern verkörpern sich solche Konflikte, z.B. in Form von wohlhabenden römischen Zollpachtgesellschaften, die sich zur Konkurrenz alteingesessener Aristokratie entwickeln. Oder in dem Abgabeneinnehmer aus dem Dorf, der weitreichende Befugnisse bekommt, genauso wie in den Händlern, die vom kleinen Abgabeneinnehmer erpresst werden oder dem Zollangestellten, der mal schneller, mal langsamer bei der Zollabfertigung arbeitet.

      In griechisch-römischer Literatur werden Abgabeneinnehmer meistens negativ dargestellt oder lächerlich gemacht. Die telōnai würden die Provinzen ausbeuten und wie „Harpyien den Menschen ihre Nahrung [wegraffen]“ (Plutarch Luc. 7,6). Sie werden neben andere moralisch fragwürdige Personen gestellt: „Ehebrecher, Bordellbesitzer, telōnai, Schmeichler, Spitzel und dergleichen ähnliche, die der Abschaum im Leben sind“ (Lukian Nek 38,11). Anekdotisch erzählt Philostrat über den Philosophen Apollonius, wie dieser sich über einen Zöllner lustig macht:

      Beim Übertritt nach Mesopotamien führte sie der Zöllner, der bei Zeugma Abgaben erhob, zu der Zolltafel und fragte, was sie mit sich führten, aber Apollonius sagte: „Ich führe Sophrosyne (Besonnenheit), Dikaiosyne (Gerechtigkeit), Arete (Tugend), Egkrateia (Enthaltsamkeit), Andreia (Tapferkeit) und Askasia (Disziplin) mit mir.“ Und er reihte noch mehr solche weiblichen Namen auf. Aber schon sah der Zöllner für sich den Gewinn und sagte: „Schreibe die Sklavinnen auf.“ „Das ist nicht möglich“, sagte er, „denn nicht Sklavinnen, sondern Herrinnen führe ich mit mir.“ (Philostrat, vit. Apoll. 1,20)

      Der Zöllner hatte angenommen, dass die weiblichen Begriffe die Namen für versklavte Frauen seien. Für Sexarbeiterinnen fielen hohe Zollgebühren an. Das Missverständnis des Zöllners ist ein Zeichen für das Ungebildet-Sein und die Gier des Zöllners. Dass Abgabenpersonal ungebildet sei, findet sich häufiger als Zuschreibung. Das sieht man auch beim jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien, der eine der brutalsten Beschreibungen von Abgabenpersonal liefert:

      So hat jüngst ein bei uns (AEM: Alexandrien) zum Steuereinnehmer (κλογεύς/eklogeus) bestellter Mann … (AEM: Verwandte von Abgabenflüchtigen) gewaltsam verschleppt, sie geschlagen, misshandelt und schändliche Gewalttaten aller Art an ihnen verübt … Aber es ist wohl nicht verwunderlich, wenn bei der Steuererhebung Barbarenseelen, die keine edle Bildung genossen haben, gehorsam den Geboten ihrer Herren die jährlichen Abgaben einziehen…“ (Philo, spec. 3,159.163)

      In solchen Texten zeigt sich, dass die Elite auf Abgabenpersonal herabblickt. Nur manchmal werden sie als Opfer geschildert und dies vor allem in historischen Werken. Positive Darstellungen gibt es hauptsächlich nur von denjenigen Abgabeneinnehmern, die selbst zur Elite gehörten: wie über Kaiser Vespasians Vater, der den Hafenzoll der Provinz Asia gepachtet hatte, und dem laut Sueton eine Statue mit der Aufschrift „dem guten Zöllner“ gewidmet wurde (Sueton Vesp. 1,2-3). Laut Artemidors Traumdeutungsbuch verheißt der Traum über einen Zöllner Glück beim Geschäftsabschluss (Artemidor Onir 3,58). Insgesamt bewerten moralisch-philosophische Werke Zöllner wegen ihrer Tätigkeit negativ und historische Werke vor allem die großen römischen Pachtgesellschaften (Publikanen) wegen ihrer Macht und ihres Einflusses (Herrenbrück, 1990, 94-96). Meistens wird über wohlhabendes und einflussreiches Abgabenpersonal berichtet, allerdings kaum über die tatsächlichen Tätigkeiten an einer Zollstation oder beim Abgabeneinnehmen.

      In rabbinischer Literatur gibt es Traditionen, die Abgabenpersonal aus moralischen und religiösen Gründen ablehnen. Auch hier gibt es Negativ-Reihen. Abgabenpersonal wird mit Mördern, Räubern, Betrügern, Ehebrechern oder Hirten aufgelistet (z.B. mNed 3,4; bSan 25b Bar). In rabbinischen Schriften wird auch diskutiert, ob Abgabeneinnehmer Mitglied einer pharisäischen Gemeinschaft sein können oder nicht (z.B. tDem 3,4; bBekh 31a; bSan 25b).2 Dabei differenzieren die rabbinischen Schriften allerdings und diskutieren vor allem Abgabeneinnehmer, die zu der Aufgabe gezwungen wurden, also eine sogenannte Liturgie (λειτουργία/leitourgia) ausüben müssen.

      Die literarischen Darstellungen sind keine akkurate Beschreibung von Abgabenpersonal, vielmehr manifestieren sich in ihnen sozial-politische und ökonomische Konflikte. Besonders in griechisch-römischer Literatur wird die Perspektive einer Elite eingenommen – den Status, aber auch die Bildung betreffend. Das findet sich zum Teil auch in der jüdischen Rhetorik über Abgabenpersonal. Es werden Stereotype gezeichnet (El Mansy, 2024b, 92-93).

    6. Abgabenpersonal im Lukasevangelium

      Das Lukasevangelium hat das meiste Sondergut in Bezug auf Abgabenpersonal. Gleich am Anfang treten Abgabeneinnehmer gemeinsam mit Soldaten an Johannes den Täufer heran und fragen ihn, wie sie sich verhalten sollen (Lk 3,12-13). Johannes sagt ihnen, dass sie nicht mehr verlangen sollen, als vorgeschrieben ist. In einer Notiz wird erwähnt, dass Abgabenpersonal und Sünder:innen zu Jesus kommen, um ihm zuzuhören (Lk 15,1-2). Dann gibt es noch die Szene vom Pharisäer und τελώνης/telōnēs im Tempel, in welcher der Pharisäer dafür dankt, nicht so wie der τελώνης/telōnēs zu sein, es allerdings der τελώνης/telōnēs ist, der um Vergebung seiner Sünden bittet (Lk 18,9-14). Es folgt die Zachäus-Erzählung (Lk 19, 1-10). Ansonsten übernimmt Lukas Material von Markus, wie die Nachfolgeerzählung des Levi (Lk 5,27-32).

      Lukas verbindet Abgabenpersonal mit Betrug und Sündig-sein. Es bleibt unklar, was genau die weiteren Sünden sind, die ihnen vorgeworfen werden.3 Gleichzeitig sind Umkehr und bei Zachäus Wiedergutmachung zentrale Themen. Abgabeneinnehmende werden bei Lukas zu exemplarischen Figuren der Umkehr, nachdem sie bereuen. Die Wiedergutmachung entspricht sowohl den rabbinischen Vorgaben als auch den Vorschriften antiker Zolledikte für den Fall eines Betrugs durch einen Zöllner.

      Lukas hat im Vergleich zum Markus- und Matthäusevangelium mehr Figuren, die wohlhabender sind und einen höheren Status innehaben. Er selbst präsentiert sich als jemand, der für sein Evangelium für gebildete Leser:innen schreibt.

      Es gibt Teile des antiken literarischen Diskurses über Abgabenpersonal, die sich in der lukanischen Darstellung wiederfinden. Zachäus wird als reich, betrügerisch und unbeliebt dargestellt. Die Betonung seiner geringen Körpergröße weckt für antike Hör-Gewohnheiten negative Assoziationen. Dies gipfelt darin, dass er auf einen Baum klettert – ein narratives Detail, das Zachäus lächerlich macht. Die Beschreibung von Zachäus fügt sich damit ein in andere antike Darstellungen von Abgabenpersonal. Allerdings weicht der Schluss von diesem Muster eindeutig ab.

      Der Diskurs über Abgaben- und Zollpersonal differenziert meistens nicht. Hier wird ein Stereotyp des betrügerischen, geldgierigen und hinterlistigen, oft ungebildeten Abgabeneinnehmers kultiviert. Ausnahmen sind Personen, deren soziales Kapital so hoch ist, dass sie als Ausnahme von der Regel dargestellt werden. Dieser Diskurs ist von der Perspektive einer sozio-ökonomischen Elite geprägt. In Zachäus vermischen sich verschiedene Aspekte.

      Sozialgeschichte: Zachäus ist ein einheimischer jüdischer Abgabeneinnehmer in einer hohen Position. Diese Aufgabe kann er nur wahrnehmen, weil er genügend finanzielle Garantien aufbringen kann. Manchmal betrügen und erpressen solche Personen bei ihrer Amtsausführung, manchmal nicht. Sie sind gut vernetzt und eingebettet in die Gesellschaft.

      Literarischer Diskurs: Zachäus wird als reich und sündig beschrieben. Letzteres ist eine spezifisch theologische Kategorie aus dem jüdischen Kontext. In anderer Literatur würde hier unmoralisches Verhalten kritisiert werden. Zachäus wird lächerlich gemacht. Die anderen stören sich daran, dass Jesus in sein Haus geht. Zachäus selbst weist auf mögliche Erpressungen seinerseits hin.

      Lukas’ Theologie: Zachäus ist ein verlorener sündiger Sohn Abrahams, der gerettet werden muss. Durch seine Umkehr und Wiedergutmachung wird er gerettet.

      Lukas nimmt die Ressentiments aus dem Diskurs auf und stellt Zachäus stereotyp dar. Damit rezipiert er einen klassistischen Diskurs, der allerdings nicht der Elite vorbehalten ist. Denn diese Perspektive schreibt er hier pauschal allen zu. Auch dies stellt wiederum eine Verallgemeinerung dar, die nicht haltbar ist. Es wird jedoch erkennbar, dass klassistische Diskurse nicht zwingend einer höher gestellten Schicht, die auf eine niedrigere herabschaut, vorbehalten sind. Andere sozio-ökonomische Schichten können diese u. U. rezipieren. Ǫuellen aus Ägypten wie die Petitionen, aber auch aus rabbinischen Kontexten weisen auf eine breitere Rezeption dieser Diskurse hin. Lukas bricht jedoch gleichzeitig mit dem Stereotyp, indem dieser Abgabeneinnehmer, wie auch schon die in vorherigen Kapiteln erwähnten, Reue und Umkehrwillen zeigt. So individualisiert er Zachäus. Gleichzeitig kreiert Lukas damit ein eigenes theologisches Stereotyp: den umkehrbereiten Sünder.

  3. Multiperspektivität und Ambiguitätstoleranz

    Die exegetischen Erkenntnisse zum sozialgeschichtlichen Kontext und literarischen Diskurs haben die Perikope – wie so oft – nicht leichter, sondern komplexer gemacht. Darin steckt die Chance für Deutungsangebote, die Multiperspektivität erlauben und Ambiguitätstoleranz fördern. Dies möchte ich beispielhaft erläutern anhand der Beschreibung Zachäus als „reicher, sündiger ρχιτελώνης/architelōnēs“.

    Die Tätigkeit als ρχιτελώνης/architelōnēs kann ein freiwilliger Dienst (Pacht) oder ein erzwungener (Liturgie) sein. Zachäus ist Teil der Administration der Stadt Jericho, die im römisch verwalteten Gebiet Judäa liegt (seit 6 n.u.Z.), das zur Provinz Syrien gehörte und einem römischen Präfekten unterstellt war. Er konnte im Zoll- oder Abgabenwesen eingesetzt sein. Er hatte eine höhere Stellung inne. Er war Jude und Teil der lokalen Gesellschaft in Jericho. Wahrscheinlich hatte er eine Scharnierfunktion als Mittelsmann zwischen lokaler Bevölkerung und Administration und innerhalb der Administration. Vielleicht war er Teil eines Netzwerks von Abgabenpersonal. Er war ökonomisch gut gestellt. Zachäus wird als sündig beschrieben, was moralisch oder kultisch gemeint sein könnte. Das kann auf Ablehnung und Ausschluss hinweisen. Zachäus wird als reich beschrieben. Diesen Reichtum hat er möglicherweise ererbt, durch Betrug beim Abgabeneinnehmen erlangt oder durch andere Einnahmequellen erworben.

    Je nachdem, wie ich Zachäus demnach beschreibe, entsteht ein anderes Bild: Der reiche betrügerische Zöllner; der sozial isolierte Außenseiter; der Profiteur der Besatzungsmacht; der in den Dienst gezwungene Provinziale und weiteres.

    Da es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten gibt, müssen Entscheidungen getroffen werden, wenn Zachäus bibeldidaktisch aufbereitet werden soll. Wie treffe ich diese Entscheidungen klassimussensibel und erschließe die Perikope bibeldidaktisch klassismusreflexiv? Zunächst sollte differenziert statt pauschalisiert werden: Die klassistischen Aspekte des antiken Diskurses sollten entweder nicht rezipiert werden oder als Phänomen thematisiert werden. Dazu gehört beispielsweise, transparent zu machen, dass wir nicht alles vom Leben in der Antike wissen.Die verschiedenen Lebensrealitäten von Abgabenpersonal können erläutert werden. Die Figuren sollten nicht pauschalisiert oder für historisch gehalten werden: Zachäus ist eine literarische Figur und steht nicht für eine ganze Gruppe und dient zudem als stereotypes theologisches Exempel.

    Wichtig ist zudem, die Ambiguitätstoleranz zu fördern: Das Jesus-Bild sollte differenziert werden, denn Jesus wendet sich sowohl marginalisierten als auch nicht-marginalisierten Menschen zu. Im Lukasevangelium treffen Arm und Reich wie in keinem anderen Evangelium aufeinander. Sozioökonomische Ungerechtigkeit wird thematisiert sowie das Verhalten der einzelnen Person im System. Ein Perspektivwechsel kann angestoßen werden, sodass neben Zachäus auch weitere Erzählfiguren als potenzielle Identifikationsfiguren wahrgenommen werden.

    Die eigene Position kritisch reffektieren: Welches Jesus-Bild vermittle ich in der Geschichte durch meine Entscheidungen? Wem wendet sich Jesus zu? Armen oder Reichen? Ausgestoßenen oder gut Situierten? Tendiere ich dazu, Gedanken oder Auslegungen zu reproduzieren, die vielleicht dem strukturellen Selbstschutz dienen? Damit sind Argumente gemeint, die meinen eigenen Wohlstand bewahren wie z.B.: Ich muss meinen Reichtum nicht aufgeben. Reiche gehören dazu, wenn sie bereuen. Oder wenn Reiche als missverstandene Personen konstruiert werden, wie es in dem Satz „Zachäus armer, reicher Mann“ anklingt.

    Rehabilitiere oder verfestige ich gegenwärtigen Klassismus durch Botschaften, die die Erfahrungen niedriger sozio-ökonomischer Schichten ausblenden oder herunterspielen. In dem Satz „Zachäus sei zwar reich, aber einsam“, wird zum Ausdruck gebracht, dass Geld allein nicht glücklich macht. Kinder und Jugendliche aus prekären ökonomischen Kontexten bewerten den Zusammenhang von Geld und Glück aber vielleicht anders. Wenn ich unhinterfragt stehen lassen, dass Zachäus sich eine Wiedergutmachung leisten kann und es keine weiteren Konsequenzen für ihn gibt, transportiere ich die Vorstellung „mit Geld lässt sich alles regeln“. Über solche Mechanismen, die in der Gegenwart erfahrbar sind, sollte kritisch diskutiert werden.

    Vor allem in Bezug auf Antijudaismen ist zu prüfen, ob ich das Judentum als Negativfolie benutze nach dem Muster: Zachäus wird von Juden/Jüdinnen in Jericho abgelehnt, aber Jesus nimmt Zachäus dann an. Die jüdischen und rabbinischen Ǫuellen zeigen einen kontroversen innerjüdischen Diskurs, in den Jesus einzuordnen ist statt ihn aus seinem jüdischen Kontext zu lösen.

  4. Fallstricke und Orientierungshilfen

Die Zachäus-Perikope hat uns exemplarisch Fallstricke vor Augen geführt, die beim Erkennen von Klassismus in biblischen Texten auftreten können. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich ein kompliziertes und komplexes Beispiel gewählt habe. Denn Zachäus, so wie er im Evangelium konstruiert wird, gehört sozio-ökonomisch zu einer höheren Gruppe, seine sozial-religiöse Position wird jedoch niedrig dargestellt. Dabei wird ein literarischer klassistischer Diskurs rezipiert, während sozialgeschichtlich nur ein kleiner Ausschnitt der Lebensrealität von Abgabenpersonal gezeigt und ihre Einbettung in die Gesellschaft komplett außer Acht gelassen wird.

Neutestamentliche Texte sind historisch in antiken Gesellschaften verortet und partizipieren an antiken Diskursen. Da uns diese meistens nicht geläufig sind, erkennen wir sie nicht immer und rezipieren unter Umständen klassistische Diskurse der antiken Umwelt. Gleichzeitig ist ein Teil der Botschaft vom Reich Gottes, für die Jesus als Messias steht, die Fürsprache und das Einfordern von Gerechtigkeit für marginalisierte Gruppen der Gesellschaft. Im Gegensatz zu anderen antiken Schriften haben wir also viel Material, das sich gegen Diskriminierung aufgrund der sozio-ökonomischen Herkunft und Position ausspricht. Dieser Intention sind jedoch auch Grenzen gesetzt – keine biblische Schrift spricht sich z.B. gegen Versklavung aus. Neben befreienden Aussagen werden Hierarchien und Ungleichheiten immer wieder festgeschrieben. Die Rezeption dieser Texte ist wiederum von den jeweiligen Standorten der Auslegenden geprägt und häufig auch von einem spezifischen Christusbild beeinflusst. All dies fließt dann in bibeldidaktisches Material ein. Die größte Aufgabe besteht meines Erachtens daher darin, eine Hermeneutik des Verdachts zu kultivieren – den Texten, Auslegungen und sich selbst gegenüber. Dazu gehört vor allem, verschiedene Perspektiven und Ansätze ernst zu nehmen, wie sie sich in kontextuellen Exegesen finden. Wir brauchen Einsichten von verschiedenen sozio-ökonomischen Standorten aus. Um wahrzunehmen und zu reflektieren, inwiefern Klassismus in den biblischen Texten und ihrer Rezeption vorhanden ist und dadurch Fortschreibungen von Klassismus zu minimieren und zu verhindern, möchte ich ein paar Reflexionsfragen vorschlagen. Der erste Teil nimmt die Auslegung von Bibeltexten in den Blick und der zweite bibeldidaktisches Material.


Reflexionsfragen für eine klassismusreflexive Exegese:

  1. Standorte: Von welchem sozio-ökonomischen Standort aus lese ich die Perikope? Von welchem sozio-ökonomischen Standort aus ist die Perikope geschrieben (Verfassende)?

  2. Textebene: Welche Ungleichheiten und Diskriminierungen aufgrund der sozio-ökonomischen Herkunft oder Position finden sich auf der Textebene?

  3. Sozialgeschichte: Was können wir über den sozio-ökonomischen Status von im Text erwähnten Gruppen und Figuren sozialgeschichtlich rekonstruieren?

  4. Literarischer Diskurs: Gibt es einen antiken griechisch-römischen und/oder jüdischen Diskurs, der die Darstellung in der Perikope beeinflusst?

  5. Theologischer Diskurs: Gibt es in der Gesamtschrift (z.B. Lukasevangelium) einen theologischen Diskurs, in dem sozio-ökonomische Aspekte eine Rolle spielen?

Reflexionsfragen für eine klassismusreflexive Bibeldidaktik

  1. Standorte: Von welchem sozio-ökonomischen Standort aus wird die Perikope interpretiert? Für wen wird die Perikope ausgelegt/aufbereitet? Mit wem soll sich identifiziert werden und warum?

  2. Auslegung: Gibt es klassistische Aspekte in der Interpretation? Werden Gruppen Aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Position abgewertet bzw. stereotyp dargestellt (z.B. Arme, Kranke, Frauen, Hirten, Fischer, Zöllner, Versklavte, Witwen, Waisen etc.)?

  3. Bildmaterial: Werden im Bildmaterial explizit und implizit sozio-ökonomische Klischees bedient?

  4. Texte: Werden in Nacherzählungen sozio-ökonomische Klischees bedient? Wird pauschalisiert und die antike Wirklichkeit unterkomplex dargestellt?

Diese Fragen sollen der Anregung und gezielten klassismusreflexiven Auseinandersetzung dienen. Sie können und sollen erweitert werden. In der Bibel gibt es viele Texte, die sich für sozio-ökonomisch marginalisierte Menschen einsetzen und versuchen, soziale, kulturelle oder ökonomische Hierarchien zu durchbrechen. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass das im Umkehrschluss jedoch nicht bedeutet, dass es keine klassistischen Bibeltexte oder klassistischen Elemente in diesen Texten gibt. Eine klassismusreflexive Exegese hilft dabei, impliziten (antiken) Klassismus, der in Darstellungen vorkommt, zu erkennen und nicht zu reproduzieren. Eine klassismusreflexive Hermeneutik setzt sich kritisch mit den eigenen Lesarten auseinander, die klassistisch sein können. Zum einen muss besonders dann kritisch nachgefragt werden, wenn sozio-ökonomisch niedrig gestellte Gruppen im Fürsorgeobjekt-Status festgeschrieben werden (z.B. Dreiklang: Fremde, Witwe und Waisen). Zum anderen zeigt sich anhand von Zachäus, wie stereotype Figuren in biblischen Texten entworfen werden, in denen klassistische Diskurse begegnen können. Entscheidend ist, dass andere Perspektiven auf biblische Texte entstehen, die neue Chancen für eine klasismusreflexive bibeldidaktische Vermittlung eröffnen.

Literaturverzeichnis

El Mansy, Aliyah (2025), Der Zöllner ist immer der Jude?! Antijüdische Interpretationen der Zachäusgeschichte, https://www.eaberlin.de/seminars/data/2025/06/der-zoellner-ist-immer-der-jude/ [Zugriff: 29.09.2025].

El Mansy, Aliyah (2024a), Τελναι im Neuen Testament. Zwischen sozialer Realität und literarischem Stereotyp (NTOA/StUNT 129), Göttingen.

El Mansy, Aliyah (2024b), Levi, Zachäus C Co: Der τελώνης als Stereotyp, in: EvTh 84/2, 85-94.

El Mansy, Aliyah (2024c), Art. Zöllner, in: WiBiLex, 1-9, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/56011/ [PDF vom Mai 2024] [Zugriff: 25.09.2025].

Gamper, Markus/Kupfer, Annett (2023), Klassismus, Bielefeld.

Grünschläger-Brennecke, S./Röse, M./Schumacher, S. (2019), Biblische Geschichten differenziert unterrichten, Hamburg.

Herrenbrück, Fritz (1990), Jesus und die Zöllner (WUNT II/41), Tübingen.

Hochartz, Kerstin (2024), Ist das gerecht? – Jesus begegnet Zachäus. Eine Unterrichtsstunde zum Thema Gerechtigkeit in der Grundschule, in: Loccumer Pelikan 3, 48-52.

Longenecker, Bruce W. (2010), Remember the Poor. Paul, Poverty, and the Greco-Roman World, Grand Rapids/Cambridge.

Peters, Beate (2023), Vom Bösewicht zum Mitmenschen. Die Geschichte von Zachäus in den Mittelpunkt stellen, in: Grundschule Religion 11: Extra Andachten und Gottesdienste: Zachäus, 1-2.

Van Nijf, Onno (2008), The Social World of Tax Farmers and their Personnel, in: Michel Cottier u.a. (Hg.), The Custom Law of Asia, Oxford, 279-311.


1 Das habe ich vor allem in der Unterrichtsreihe von Grünschläger-Brennecke/Röser/Schumacher, 2019, 75-76 im Textmaterial gesehen und im Loccumer Pelikan 3/2024 in der Einleitung zur Geschichte (Hochartz ,2024, 48-49).

2 Die rabbinischen Negativreihen wurden vor allem von Joachim Jeremias untersucht. Herrenbrück, 1990, 192216, weitet das Material aus und arbeitet vor allem die unterschiedlichen Positionen heraus.

3 Herrenbrück, 1990, 207-208, leitet aus rabbinischem Material ab, dass es Traditionen gibt, die Abgabenpersonal mit schwerem Fehlverhalten wie Mord, Diebstahl oder Götzendienst auf eine Stufe stellen. Allerdings gibt es daneben ebenso die Tradition, dass eine Wiedergutmachung möglich ist, falls betrogen, erpresst oder gestohlen wurde durch den Abgabeneinnehmer.


Dr. Aliyah El Mansy ist Professorin für Bibelwissenschaften und Bibeldidaktik an der Universität Münster und arbeitet zu Gender, Intersektionalität und Sozialgeschichte.



Theo-Web Nr. 2/2025, ISSN 1863-0502 Open Access, Licence: CC BY 4.0 International © 2025 Schwarz/Meyer